1400 Kinder sollen in Rotherham Opfer sexueller Gewalt geworden sein – Politiker und Polizei schauten offenbar weg.

London. Die Namen von Jimmy Savile und Rolf Harris, zwei berühmte BBC-Entertainer, stehen stellvertretend für einen Missbrauchsskandal, der Großbritannien seit drei Jahren erschüttert. Nun ist ein weiterer Name hinzugekommen: Rotherham, die 250.000-Einwohner-Stadt in Yorkshire im Norden Englands. 1400 Kinder sollen dort zwischen 1997 und 2013 Opfer sexueller Gewalt geworden sein – und die Behörden ebenso wie Politik schauten wider besseres Wissen weg.

Damit reiht sich der Fall Rotherham in eine schier nicht endende Folge von Skandalen ein, die nicht durch Polizeiarbeit aufgedeckt wurden, sondern durch Medien. Im Fall Rotherham durch die renommierte Tageszeitung „Times“. Die öffentliche Erschütterung im Vereinigten Königreich ist riesig, und ein verantwortlicher Politiker trat nach Bekanntwerden des Reports umgehend zurück.

Es sind bohrende Fragen, die sich das Land jetzt stellt: Wie war es möglich, dass Sozialarbeiter bereits vor mehr als zehn Jahren dem Stadtrat und der Polizei in South Yorkshire belastbare Hinweise gaben, dass eine größtenteils pakistanischstämmige Gang eine große Zahl von Mädchen in der Stadt brutal missbraucht – und dass trotzdem nichts dagegen unternommen wurde?

Für den Moment gibt es darauf zwei Antworten: „Es gab Bedenken, dieses ethnische Thema an die Öffentlichkeit zu bringen, aus Sorge um den Zusammenhalt der Gemeinschaft“, sagt Alexis Jay, die die 2013 vom Stadtrat in Auftrag gegebene unabhängige Untersuchung leitete. Es habe unter den an der Basis arbeitenden Sozialarbeitern „der verbreitete Eindruck“ bestanden, dass „einige hochstehende Leute im Rat und in der Polizei die ethnische Dimension herunterspielen wollten“.

Anders ausgedrückt: Dort ging die Angst um, dass die Beschuldigung der pakistanischen Minderheit in Rotherham als Rassismus-Bumerang zurückkommen und zu Spannungen mit den Einwanderern führen könnte. Ein fatales Denkmuster, das sich bereits in anderen Fällen in Großbritannien gezeigt hat.

Die andere Antwort lautet, dass im Stadtrat von Rotherham offenbar ein sexistisches, frauenfeindliches Klima herrschte. Der „Times“ zufolge wurden Sozialarbeiterinnen angehalten, kurze Röcke zu tragen, wenn sie an einer Karriere interessiert waren. „Mir wurde gesagt, dass einige Volksvertreter das Thema nicht glauben wollten, weil so etwas in Rotherham nicht passieren könne“, so Professor Jay, die als ehemalige Sozialarbeiterin seit Jahrzehnten Untersuchungen im ganzen Land geführt hat.

Das Ausmaß der Verbrechen in Rotherham schien Alexis Jay auch persönlich mitzunehmen, als sie die Ergebnisse ihrer Untersuchung öffentlich präsentierte: „Es gibt Fälle von Kindern, die mit Benzin übergossen und bedroht wurden, angezündet zu werden. Die brutale Vergewaltigungen ansehen mussten und denen mit dem Tod gedroht wurde, sollten sie jemandem etwas sagen. Mädchen, kaum älter als elf Jahre, wurden von einer riesigen Zahl männlicher Täter vergewaltigt.“ Die Gangs – so Jays Erkenntnisse – schleusten ihre Opfer durch das ganze Land, Massenvergewaltigung und Folter fanden statt, sie setzten die Kinder unter den Einfluss von Alkohol und Drogen.

Dabei wurden die Mädchen und ihre Angehörigen sogar Opfer der Behörden. Laut Jays Bericht versuchten in zwei Fällen die Väter misshandelter Mädchen, ihre Töchter aus den Häusern, in denen sie festgehalten wurden, herauszuholen. Doch statt Hilfe von der Polizei zu bekommen, wurden sie selbst verhaftet. „In anderen Fällen wurden Opfer selbst verhaftet, weil sie wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit und Ruhestörung aufgefallen waren. Gegen die Täter, die vergewaltigten und überfielen, wurde hingegen nichts unternommen.“

Am Mittwoch mehrten sich die öffentlichen Forderungen, dass mehr Verantwortliche mit ihrem Rücktritt Konsequenzen aus dem Skandal zögen. Bis dahin war nur der Chef der Labour-Fraktion im Stadtrat von Rotherham zurückgetreten. Sein Kollege Shaun Wright, der heute das vor einiger Zeit eingeführte Amt eines gewählten Polizeiaufsehers hält, verweigerte vorerst, persönliche Konsequenzen zu ziehen. Dabei war Wright zwischen 2005 und 2010 im Stadtrat für den Jugendschutz zuständig gewesen – und hatte laut Jay drei Berichte entgegengenommen, die den verbreiteten Missbrauch anprangerten. Doch Wright tat nichts.

Als im Jahr 2010 die 17 Jahre alte Laura Wilson tot in einem Kanal nahe Rotherham gefunden wurde, versuchte der zuständige Stadtrat, den Report über den Vorfall unter Verschluss zu halten. Als dieser dann doch öffentlich gemacht werden musste, war der Text massiv redigiert worden, um die ethnische Herkunft von Männern zu verschleiern, die versucht hatten, das Mädchen bereits als Elfjährige sexuell zu missbrauchen.

Wie auch im Fall der Vergewaltiger Jimmy Savile und Rolf Harris fragen sich die Briten nun, was nach Rotherham noch alles zutage treten wird. Zumal es nicht das erste Mal ist, dass Einwanderer asiatischer Herkunft bandenmäßig Mädchen und junge Frauen missbraucht und gefoltert haben. 2012 wurden deshalb in Nordengland neun Männer aus Pakistan und Afghanistan zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Zwei Mädchen sollen in Folge des Missbrauchs gestorben sein. Auch in diesem Fall wurden die Vorwürfe der Opfer jahrelang ignoriert.