Gericht in Florenz verurteilt den „Engel mit den Eisaugen“ im Prozess um den Mord an Studentin Meredith Kercher zu 28 Jahren Haft. Im fernen Seattle reagiert Knox auf den Schuldspruch verängstigt und traurig.

Florenz/Seattle. Neue Kehrtwende im Fall Amanda Knox: Zum zweiten Mal ist die Amerikanerin im Prozess um den Mord an der Britin Meredith Kercher verurteilt worden. Ein Berufungsgericht in Florenz bestätigte am späten Donnerstagabend einen Schuldspruch von 2009, wonach die 26-Jährige und ihr Ex-Freund Raffaele Sollecito 2007 die Studentin Kercher brutal ermordeten. Knox wurde in Abwesenheit zu 28 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt, Sollecito zu 25 Jahren. Nun dürfte eine lange juristische Schlacht um Knox' Auslieferung aus den USA folgen.

Fast zwölf Stunden beriet das Gericht über den Fall, bevor es das Urteil verkündete. Die Staatsanwaltschaft hatte 26 Jahre Gefängnis für die beiden gefordert.

Knox, seit Beginn des Mordprozesses auch „Engel mit den Eisaugen“ genannt, ereilte die Nachricht von ihrer erneuten Verurteilung in ihrer Heimatstadt Seattle, wohin sie nach ihrem vorherigen Freispruch im Jahr 2011 zurückgekehrt war. Sie reagierte verstört. „Ich hatte Besseres vom italienischen Justizsystem erwartet“, hieß es in einer schriftlichen Stellungnahme der Ex-Austauschstudentin. Das Ganze sei nun „aus dem Ruder gelaufen“. Der Schuldspruch habe sie verängstigt und traurig gemacht. Die italienische Justiz bezeichnete sie zudem als pervers.

In ihrer Erklärung ging Knox auch auf die Angehörigen der getöteten Kercher ein, mit der sie sich in Italien ein Zimmer geteilt hatte. „Diese harte Strafe ist kein Trost für die Familie Kercher“, sagte Knox nach dem Urteil. Sie verdienten Respekt und Unterstützung, sagte Knox. Ihr Vater, Curt Knox, sagte, er habe keinen Kommentar.

Kercher-Anwalt ist zufrieden

In ihrer Erklärung kritisierte die US-Studentin eine „übereifrige und sture Staatsanwaltschaft“ und sprach von „voreingenommenen und engstirnigen Ermittlungen“. Allen mangelnden Beweisen zum Trotz sei die Anklage nicht bereit gewesen, „Fehler zuzugeben“ und habe sich stattdessen auf „unzuverlässige Zeugenaussagen und Beweismittel“ gestützt. Das „Fehlurteil“ sei nicht nur entsetzlich für die Verurteilten, sondern auch für „das Opfer, ihre Angehörigen und die Gesellschaft“.

Der Anwalt der Familie Kercher, Francesco Maresca, äußerte sich mit zufrieden mit dem neuen Urteil. Mit ihm sei Meredith und ihrer Familie „ein wenig Gerechtigkeit widerfahren“. „Das war das Urteil, das wir wollten. Wir wussten immer, dass das erstinstanzliche Urteil gerecht und ausgewogen war“, sagte er. Die Schwester der Toten, Stephanie, sagte nach dem Verfahren, ihre Familie verlange lediglich nach „Wahrheit und Gerechtigkeit“.

Die Anwälte von Knox und Sollecito haben bereits angekündigt, in Berufung gehen zu wollen. Es gebe nicht den geringsten Beweis, sagte Sollecitos Anwalt Luca Mori.

Sollecito an Grenze zu Slowenien aufgegriffen

Raffaele Sollecito ist in der Nacht unweit der Grenze zu Slowenien und Österreich aufgegriffen worden. Die Polizei informierte den Ex-Freund der US-Amerikanerin über das vom Gericht in Florenz verhängte Ausreiseverbot wegen Fluchtgefahr, wie italienische Medien am Freitag berichteten. Richter Alessando Nencini ordnete an, Sollecitos Pass einzuziehen, damit er das Land nicht verlassen kann. Der Italiener wird nicht verhaftet, weil das Urteil vom Vorabend nicht rechtskräftig ist.

Ein Gericht hatte Knox und Sollecito 2009 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Knox saß bereits vier Jahre ab. Im Berufungsprozess wurden Knox und Sollecito dann 2011 unter anderem wegen Zweifeln an den DNS-Beweisen freigesprochen. Der Freispruch wurde im März 2013 vom höchsten Strafgericht Italiens aber wieder kassiert.

Oberstes Gericht in Italien muss zustimmen

Unmittelbar nach dem Freispruch war Knox in die USA zurückgekehrt, erst danach wurde der Mordprozess abermals neu aufgerollt. Das jetzige Urteil muss wahrscheinlich vom Obersten Gericht Italiens bestätigt werden. Ein Antrag auf Auslieferung käme wohl erst danach infrage. Daher dürfte sich das juristische Tauziehen in dem Fall noch einige Zeit hinziehen.

Die damals 21-jährige Britin Kercher war am 2. November 2007 halbnackt und mit durchgeschnittener Kehle in der Wohnung im italienischen Perugia entdeckt worden, die sie sich mit Knox teilte. Ihre Leiche wies 47 Messerstiche auf, die Studentin war zudem vergewaltigt worden. Wegen ihres Todes im Gefängnis sitzt bereits der Drogendealer Rudy Guede, dessen DNA am Tatort gefunden wurde. Er wurde zu 16 Jahren Haft verurteilt. Den Ermittlern zufolge wiesen die Stichwunden jedoch stark darauf hin, dass es mehr als einen Täter gab.

Doch kein erotisches Dreiecksspiel?

Der Fall sorgt seit Jahren international für Schlagzeilen – wegen der immer neu aufgerollten Prozesse, aber auch wegen der Grausamkeit der Tat. Vier Tage nach dem Tod Kerchers war Knox verhaftet worden. Die junge Amerikanerin wurde teils als „Teufelsweib“ dargestellt, das sexuelle Abenteuer suche. Dann wieder galt sie als naiv, gefangen in einem komplizierten italienischen Justizsystem. Sie bestreitet die Vorwürfe.

Im jetzigen Verfahren wich die Anklage von der bisherigen Darstellung ab, wonach ein erotisches Dreiecksspiel zum Mord an Kercher geführt haben soll. Stattdessen argumentierte die Staatsanwaltschaft nun, dass vielmehr ein Streit über die Sauberkeit in der gemeinsamen Wohnung eskaliert sei.

Im jetzigen Verfahren sagte Knox' Anwalt Carlo Dalla Vedova im Schlussplädoyer, er sehe dem Richterspruch gelassen entgegen. Aus den vorliegenden Beweisen lasse sich nur „die Unschuld von Amanda Knox“ folgern. „Es ist nicht möglich, eine Person zu verurteilen, weil es wahrscheinlich ist, dass sie schuldig ist. Das Strafrecht sieht keine Wahrscheinlichkeit vor. Es sieht Gewissheit vor.“

Die Anhörung in Florenz verfolgten auch Kerchers Schwester Stephanie und ihr Bruder Lyle. „Es ist gerade schwierig, irgendetwas zu fühlen, weil wir wissen, dass es ein weiteres Berufungsverfahren geben wird“, sagte Lyle. „Ganz egal wie das Urteil ausgefallen wäre, hätte es ohnehin keinen Grund zur Freude gegeben“.