Experten fordern, die von den Nazis geraubten Meisterwerke im Internet zu zeigen. Die Behörden mauern. Wo ist Steuersünder Cornelius Gurlitt, der die Bilder hortete?

Augsburg/München. Die Geschichte um die von den Nazis geraubten Kunstwerke, die jetzt ans Tageslicht gekommen ist, wird immer schriller. Unbekannte Meisterwerke tauchen auf, Experten betteln darum, diese Werke im Internet zu zeigen – und die Krimi-Story hinter dem Sensationsfund wird ebenso brisant.

Es begann mit einer Zugfahrt. Am 22. September 2010 fuhr der heute 79 Jahre alte Cornelius Gurlitt von Zürich nach München. Zwischen Lindau und Kempten kontrollierten Zollfahnder den älteren Herren, fanden aber nichts Strafbares.

Trotzdem blieb ein vager Verdacht, der Mann könnte ein Steuerdelikt begangen haben. Die Ermittler fingen an zu graben. Eineinhalb Jahre später hatten sie genug Verdachtsmomente zusammengetragen.

Vom 28. Februar bis zum 2. März 2012 wurde die Wohnung von Gurlitt in München durchsucht. Was die Fahnder dort entdeckten, überstieg alle Erwartungen: gut 1400 Gemälde, Aquarelle, Lithografien, Drucke und Zeichnungen von Künstlern vor allem aus der Zeit der klassischen Moderne. Viele der als verschollen geltenden Kunstgegenstände waren von den Nazis als „entartet“ gebrandmarkt und beschlagnahmt worden.

Die Berliner Kunstexpertin Meike Hoffmann versucht seitdem, die Herkunft der Bilder zu klären – allerdings streng geheim. Erst am 3. November dieses Jahres brachte der „Focus“ den Fall in die Öffentlichkeit und sorgte damit für eine Sensation.

Aber der spektakuläre Kunstfund aus München bleibt unter Verschluss. Weder im Internet, noch in einem Katalog und erst recht nicht in einer Ausstellung sollen die beschlagnahmten Werke öffentlich gemacht werden. Der Augsburger Leitende Oberstaatsanwalt Reinhard Nemetz begründete dies am Dienstag unter anderem mit den Ermittlungen gegen den Besitzer Cornelius Gurlitt, die längst nicht abgeschlossen seien.

Der Berliner Rechtsanwalt und Kunstexperte Peter Raue hat die lange Geheimhaltung der Sammlung Gurlitt durch die bayerischen Behörden scharf kritisiert. Die Begründung, wonach man erst habe klären wollen, wem die Kunstwerke gehörten, sei „nachgerade dreist“, sagte Raue im Deutschlandradio Kultur.

Er forderte, Bilder der Werke im Internet zu veröffentlichen. Dann könnten sich Museen und Angehörige der früheren jüdischen Eigentümer melden und zur Aufklärung beitragen. „Das wird alles verhindert, weil sie sagen „wir forschen selbst“. Das ist unglaublich“, kritisierte Raue.

Die strikte Geheimhaltung stößt auch im Ausland auf Kritik, zumal es sich bei vielen Werken um Nazi-Raubkunst handeln dürfte, deren ehemalige Eigentümer seit Jahrzehnten auf der Suche nach ihren verlorenen Schätzen sind.

Nach Angaben von Nemetz beschlagnahmten die Behörden 1285 ungerahmte und 121 gerahmte Bilder. Darunter befanden sich Werke von Picasso, Chagall, Marc, Nolde, Spitzweg, Renoir, Macke, Courbet, Beckmann, Matisse, Liebermann, Dix, Kokoschka, Schmidt-Rottluff, Toulouse-Lautrec und Kirchner. Zum geschätzten Wert der Sammlung machte er keine Angaben.

Auch wo die Objekte derzeit lagern, bleibt ein Geheimnis, vor allem aus Gründen der Sicherheit. Dass Gurlitt anderswo noch ein Lager hat, halten die Ermittler mittlerweile für unwahrscheinlich.

Kernpunkt für die Ermittler ist die Frage, wem die Kunstwerke einst gehört haben und ob die Familien sie unter dem Druck der Nazis verloren haben. Damit hängt eng zusammen, ob sich Gurlitt strafbar gemacht hat. Ihm werden Unterschlagung und Steuerdelikte angelastet. Kunstgegenstände aus der Sammlung seien als vernichtet oder veräußert bezeichnet worden, sagte Nemetz.

Die Angelegenheit sei zu wichtig, um sie an die große Glocke zu hängen. „Die Ermittlungen werden gefährdet, die Kunstwerke werden gefährdet“, hob er hervor. Seit die „wahnsinnige Dimension“ bekannt sei, hätten die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt werden müssen. „Die Ermittlungen haben Vorrang, ich kann nicht darüber spekulieren, wer Eigentümer von irgendwelchen Sachen sein kann“, erklärte Nemetz. Wer glaube, Anspruch auf eines der Werke zu haben, könne sich aber gerne bei der Staatsanwaltschaft melden.

Das haben schon einige getan, darunter auch die Erben von Alfred Flechtheim, die in der Sammlung Gurlitt Werke aus den unter NS-Druck aufgelösten Beständen des jüdischen Kunsthändlers in der Sammlung Gurlitt vermuten.

Die Sammlung umfasst viele Werke der klassischen Moderne, die von den Nazis als „entartet“ diffamiert und beschlagnahmt wurden. Aber es gibt auch Objekte, die von Gurlitts Vater, Kunsthändler Hildebrand Gurlitt, nachweislich erst nach dem Zweiten Weltkrieg erworben wurden, so etwa Gustav Courbets „Mädchen mit Ziege“, das erst 1949 ersteigert wurde. Auch ältere Kunstwerke sind darunter, so etwa ein Kupferstich von Albrecht Dürer aus dem 16. Jahrhundert.

Die Herkunft der Bilder erforscht seit Frühjahr 2012 die Kunsthistorikerin Meike Hoffmann. Bei welchen Werken es sich um Nazi-Raubkunst handelt, kann die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstelle Entartete Kunst an der FU Berlin noch nicht sagen. Die Recherche sei noch lange nicht zu Ende. Doch auch die bisherigen Erkenntnisse sind für sie von großer Bedeutung, vor allem die bislang unbekannten Werke. „Es wird die Einzelforschung zu den Künstlern stark vorantreiben“, erklärte sie.

Die Wohnung des 79-jährigen Cornelius Gurlitt in München-Schwabing war am 28. Februar 2012 durchsucht worden und nicht bereits 2011. Dies stellte der Leiter des Zollfahndungsamts München, Siegfried Klöble, klar, ohne allerdings den Namen Gurlitt zu nennen. Die Ermittler fanden die Bilder ordentlich in Regalen und Schubfächern. „Die Gemälde waren in diesem Raum fachgerecht gelagert und in einem sehr guten Zustand“, sagte Klöble.

Der Kunsthändler-Sohn Cornelius Gurlitt besitzt auch ein Haus im noblen Salzburger Stadtteil Aigen, das noch nicht durchsucht wurde. Der Sprecher der Staatsanwaltschaft Salzburg, Marcus Neher, sagte, deutsche Behörden hätten sich noch nicht mit einem Rechtshilfeverfahren an die österreichischen Ermittler gewandt.

Wo Gurlitt derzeit ist, ist nicht bekannt. „Ich weiß nicht, wo er sich aufhält, weil uns diese Frage gar nicht beschäftigt“, sagte Nemetz. „Das bedeutet nicht, dass er unauffindbar ist.“