Mindestens 80 Menschen sterben bei schwerem Zugunglück in Spanien. Verantwortlicher räumt ein: „Ich habe den Zug zum Entgleisen gebracht“

Madrid. „Ich habe den Zug zum Entgleisen gebracht, was soll ich bloß tun? Ich bin doch nur ein Mensch.“ Diesen Satz gab Francisco José Garzón, 52, der Lokführer des Schnellzugs Alvia 01455, am Mittwoch um 20.41 Uhr über Funk durch, als er nach dem Aufprall noch in der Fahrerkabine eingeklemmt war. Wenige Sekunden zuvor hatte er mit seiner waghalsigen Raserei das schlimmste Zugunglück in Spanien seit mehr als 40 Jahren verursacht.

Experten berichten später, dass der Lokführer nur drei Kilometer vor der Einfahrt zum Bahnhof der nordspanischen Pilgerstadt Santiago de Compestela mit mehr als 190 Stundenkilometern in eine berüchtigte scharfe Linkskurve gefahren war, für die eine Höchstgeschwindigkeit von Tempo 80 vorgeschrieben ist. Die Daten aus der Blackbox des Zuges, der von Madrid nach Ferrol fährt, wird derzeit ausgewertet.

Mit immenser Wucht wurden acht Waggons, in denen 218 Passagiere saßen, auseinandergerissen und türmten sich aufeinander auf; einer wurde gar über eine Begrenzungsmauer geschleudert, einer komplett zerstört. 80 Menschen starben, mehr als 140 wurden verletzt, rund zwei Dutzend davon schwer. Der Lokführer kam mit Prellungen und Quetschungen davon. Noch haben die Untersuchungsrichter den Lokführer nicht vernommen.

An der Unglücksstelle laufen die Rettungsarbeiten auf Hochtouren. Verzweifelte Angehörige werden von Psychologen betreut, zeitgleich werden die Opfer identifiziert.

Die Bilder der Unglücksstelle erinnern viele Spanier an die Attentate auf die Madrider Vorortzüge im Frühjahr 2004. Bei den Anschlägen der Islamisten wurden damals 191 Menschen getötet. Doch diesmal steht menschliches Versagen hinter der Tragödie, kein Terroranschlag, wie die Regierung betont. Es war der erste Unfall eines Schnellzugs in Spanien, obwohl in den vergangenen Jahren Milliarden Euro in den Ausbau des Netzes geflossen sind.

Augenzeugen im Vorort Angrois hörten zuerst eine laute Explosion, dann stiegen Rauch und Flammen auf. Eine Frau, die in der Nähe der Unglücksstelle Wäsche aufhängte, sah eine riesige Staubwolke. „Ich glaubte, der Zug rast auf mich zu“, sagt sie. „Unsere Häuser bebten“, sagt eine andere. Die Anwohner von Angrois leisteten Erste Hilfe, sie brachten Decken und Wasser für die Überlebenden. „Wir schlugen die Waggonfenster ein und holten die Verletzten raus“, berichtet Juan Soller.

An der Unglücksstelle herrschen Chaos und Verzweiflung. Überall Blut, Handys klingeln, die keiner mehr abnimmt. Der Amerikaner Raúl Fariza saß mit seiner Frau Myra im vorletzten Waggon. Das Paar wollte an den eigentlich für Donnerstag anberaumten Feierlichkeiten zu Ehren des Heiligen Jakob teilnehmen. „Beim Aufprall wurde meine Frau verletzt, sie blutete stark.“ Sie konnte fünf Minuten später von den Rettungskräften geborgen werden. Fariza sah auch, wie ein Baby unverletzt aus dem Zug gebracht wurde. Glücksmomente inmitten einer Tragödie.

Die Aufmerksamkeit der Experten richtet sich nun auf die Todeskurve A Grandeira. Sie hatte schon in der Vergangenheit Probleme bereitet, etwa als die Strecke am 10. Dezember 2011 in Betrieb gegangen war. Schon damals sorgte die vergleichsweise scharfe Kurve für einen Ruck in den Waggons und erstauntes Gemurmel der Fahrgäste. A Grandeira ist die erste Kurve auf der bis dahin völlig geraden Schnellzug-Strecke zwischen Madrid und Ferrol in Galicien. Es wurde keine neue, völlig unabhängige Streckenführung entwickelt, sondern der Schnellzug benutzt einen Teil der alten Gleisabschnitte, die während des Franco-Regimes zwischen beiden Städten gebaut worden waren.

An der Einfahrt zu Santiago wurde die Streckenführung zwar erweitert, sie erfüllt an der Stelle jedoch nicht die Bedingungen für den Hochgeschwindigkeitsbetrieb. Laut Zeitung „El País“ hätten damals noch mehr Enteignungen in dieser Gegend vermieden werden sollen. Außerdem hatte der Alvia 01455 nicht das europäische Eisenbahn-Steuerungssystem EMTRS, das verhindert, dass ein Schnellzug die erlaubte Geschwindigkeit überschreitet.

Julio Gómez Pomar, Präsident der spanischen Eisenbahngesellschaft Renfe, zeigte sich bestürzt. „Der Lokführer hatte 30 Jahre Berufserfahrung und fuhr dieses Hybridmodell schon seit über einem Jahr.“ Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy hat drei Tage Staatstrauer angeordnet. „Ihr werdet nicht allein sein“, versprach er den Angehörigen der Opfer, als er die Unglücksstelle besuchte. Papst Franziskus rief in Rio de Janeiro, wo der Weltjugendtag stattfindet, zum Gebet auf. In Santiago de Compostela wurden alle Feiern zu Ehren des Schutzheiligen abgesagt. Stattdessen soll in der Pilgerstatt so lange getrauert werden wie nie: sieben Tage.

Die Katastrophe war das drittschwerste Bahnunglück in der spanischen Geschichte. 1944 kamen bei einer Zugkollision bei León im Norden des Landes wahrscheinlich mehr als 500 Menschen ums Leben; die Zensur der Franco-Diktatur bezifferte die Zahl der Opfer auf 78. Im Jahr 1972 forderte ein Zugunglück in Andalusien 86 Menschenleben. In Deutschland rufen die aktuellen Ereignisse Erinnerungen an den bisher schwersten Bahnunfall in der Bundesrepublik Deutschland hervor. Am 3. Juni 1998 kurz vor 11 Uhr entgleiste der Intercity-Express 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ bei Eschede in Niedersachsen bei Tempo 200 und prallte gegen eine Betonbrücke. 101 Menschen starben, 88 Reisende wurden schwer verletzt. Der Zug war auf dem Weg von München nach Hamburg.