Das Seil ist nur fünf Zentimeter dick, der Abgrund dafür 457 Meter tief. Nik Wallenda stört das nicht: Der Extremsportler aus den USA möchte als erster Mensch über dem Little Colorado River balancieren.

Los Angeles/Grand Canyon/San Francisco. Nach jahrelanger Planung läuft der Countdown für einen riskanten Balanceakt in schwindelnder Höhe über dem Grand Canyon. An diesem Sonntag (Ortszeit, deutscher Zeit Montagmorgen) will Hochseilartist Nik Wallenda auf einem fünf Zentimeter dicken Drahtseil über eine Schlucht des Grand Canyons balancieren - 457 Meter hoch über dem Little Colorado River, höher als das New Yorker Empire State Building. Auf einer Länge von 425 Metern.

Anders als bei seiner Überquerung der Niagara-Fälle vor rund einem Jahr will der 34-Jährige diesmal auf einen Sicherheitsgurt verzichten. Wallenda hat nur einen Balancestab dabei, gut acht Meter lang und rund 18 Kilogramm schwer. Dabei wird Wallenda mehrere Kameras und Mikrofone tragen, über die ihm Journalisten während seines Drahtseilakts Fragen stellen können.

Das riskante Manöver, das den dreifachen Vater das Leben kosten könnte, wird von Discovery Networks live in viele Länder übertragen. In Deutschland ist die Aktion in der Nacht vom 23. auf den 24. Juni ab 2 Uhr morgens auf DMAX zu verfolgen. Der Schweizer Hochseilartist Freddy Nock, selbst Extrem-Akrobat, kommentiert als Experte die Übertragung.

Einen Sturz würde er kaum überleben

Seit Monaten bereitet sich Wallenda, Urenkel eines deutschen Zirkusakrobaten und Mitglied der berühmten Artistenfamilie „Flying Wallendas“, in seinem Heimatstaat Florida auf den Balanceakt vor. Künstlich erzeugte Böen von Windmaschinen und heftige Stürme wurden genutzt, um schwierigste Bedingungen zu simulieren. Die tiefe Grand-Canyon-Schlucht ist für gefährliche Auf- und Seitenwinde bekannt. „Es gibt kaum eine Chance, einen Sturz aus 457 Metern Höhe zu überleben“, sagte Wallenda kürzlich beim Training. „Ich habe ausgerechnet, dass ich neun Sekunden bis zum Boden brauchen würde. Das ist eine Menge Zeit zum Nachdenken.“

Doch Wallenda beteuert, er sei weder verrückt noch lebensmüde. Er hat bereits sieben Weltrekorde aufgestellt, darunter den längsten Lauf über einen Wasserfall. Im Juni 2012 schrieb er Geschichte, als er als erster Mensch seit über hundert Jahren auf einem Hochseil die Niagarafälle an ihrer gefährlichsten Stelle, direkt über den kanadischen Horseshoe Falls, überquerte. Die rund 550 Meter zwischen der US- und der kanadischen Seite legte er in 25 Minuten zurück. Ähnlich lang soll der Weg über den Grand Canyon dauern.

Doch es gibt einen großen Unterschied. Bei dem Stunt an den Niagarafällen war er mit einem Gurt gesichert. Das hatte der übertragende Sender ABC damals verlangt. Diesmal macht sich Wallenda ohne Sicherung auf den Weg. Dabei trägt er wieder Schuhe, die seine Mutter für ihn maßgeschneidert hat, die Oberseite aus Rindsleder, die dünne Sohle aus Elchhaut. Nik gehört zur bereits siebten Generation der „Flying Wallendas“. Seine Frau, eine Artistin wie er, sowie die drei gemeinsamen Kinder im Alter von neun bis 14 Jahren unterstützen seine Rekordversuche.

„Lukrativer, als ich mir je erträumt hätte“

Kaum auf den Beinen, durfte Nik auch aufs Seil. Mit zwei Jahren habe er im Garten der Eltern angefangen. Mit 13 trat er erstmals auf dem Hochseil vor Publikum auf. Urgroßvater Karl Wallenda, ein gebürtiger Magdeburger, nennt er als sein Vorbild. Er kam 1978 im Alter von 73 Jahren bei einem Sturz vom Hochseil in Puerto Rico ums Leben. Das zwischen zwei Gebäuden aufgehängte Seil habe damals nicht die richtige Spannung gehabt, glaubt der Urenkel. Außerdem sei er mit 73 Jahren für den Balanceakt zu alt gewesen. Er wolle früher in den Ruhestand gehen, beteuert Wallenda. Mit dem Lauf über den Grand Canyon möchte er seinen Urgroßvater ehren.

Wallenda deutet an, dass er für die Live-Übertragung seines Stunts am Sonntag sehr gut vom Discovery Channel bezahlt werde. „Es ist extrem lukrativ, lukrativer, als ich mir je erträumt hätte“, sagt Wallenda. Zugleich denkt er bereits an die nächsten möglichen Herausforderungen: „Die Pyramiden in Ägypten, der Eiffelturm.“ Es gebe Orte in der ganzen Welt, an denen er auf dem Drahtseil laufen wolle. „Wir werden sehen, wohin mich das Leben führt“, fügte Wallenda hinzu.

Als Jugendlicher habe er studieren und Kinderarzt werden wollen, sagt Wallenda, der aus einer Zirkusfamilie kommt. Aber als seine Familie Ende der 90er Jahre mit einem Drahtseilakt mit sieben Menschen in Pyramidenform Furore gemacht habe, sei ihm klar geworden, dass „hier definitiv eine Karriere zu machen ist“, sagte Wallenda. Damals habe er verstanden, dass das Geschäft nicht vom Aussterben bedroht sei, sondern sich ändere.

Mit 50 Jahren werde er aber aufhören, versichert der Extremsportler. Das sei auch eine Lehre aus dem Schicksal seines Großvaters, der 1978 im Alter von 78 Jahren beim Versuch, zwischen zwei Wolkenkratzern zu balancieren, zu Tode stürzte.