Die brasilianische Präsidentin räumt den Demonstranten das Recht auf friedlichen Protest ein. Doch der Aufstand rund um den Confed Cup verlief bislang nicht überall glimpflich. In Rio gab es mindestens 30 Verletzte.

Brasilia/Rio de Janeiro/Frankfurt. Der Unmut über die Verschwendung öffentlicher Gelder und verfehlte Stadtpolitik hat in Brasilien die größten Massen-Proteste seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 ausgelöst.

Mehr als hunderttausend Menschen demonstrierten am Montag (Ortszeit) in fast allen Großstädten des Landes, darunter in Sao Paulo, Rio de Janeiro, Belo Horizonte und Brasilia. Das brutale Vorgehen der Polizei gegen eine Demonstration in São Paulo am Donnerstag war einer der Anlässe für den landesweiten Protest am Montag.

Die Protestaktionen, die teilweise über soziale Netzwerke organisiert wurden, richteten sich gegen Korruption, Kriminalität, hohe Steuern, schlechte Zustände in Schulen und Krankenhäusern und Milliardenausgaben für die Fußballweltmeisterschaft im kommenden Jahr und den Olympischen Spielen 2016. Auch die hohen Kosten des Confederations Cup, der Generalprobe für die Fußball-WM, sind Thema.

Demonstrationen fanden am Montag in Brasilia, Rio de Janeiro, Sao Paulo, Belo Horizonte, Porto Alegre, Curitiba, Belem und Salvador statt. In Belo Horizonte nahmen nach Polizeischätzung 20.000 Menschen an einer friedlichen Kundgebung vor dem Confederations-Cup-Spiel zwischen Nigeria und Tahiti teil.

30 Verletzte in Rio

Nicht alle Kundgebungen in mindestens acht Metropolen verliefen friedlich. Allein in Rio de Janeiro gingen laut Schätzungen rund hunderttausend Menschen auf die Straße.

50 Demonstranten versuchten, in das Staatsparlament einzudringen, wurden aber abgedrängt. Die Polizei setzte Tränengas und Gummigeschossen gegen die Gruppe Demonstranten vor, die zum Staatsparlament marschierten und Steine und Fackeln auf Polizisten warfen.

Später bewarfen einige Demonstranten die Polizei mit Molotow-Cocktails und Kokosnüssen. Eine kleine Gruppe Demonstranten zündete Autos und Barrikaden an.

Außerdem brachen Jugendliche in das Gebäude der Regionalregierung im Zentrum der 20-Millionen-Einwohner-Metropole. Polizisten und andere Personen waren dort stundenlang eingeschlossen.

Das brasilianische Fernsehen zeigte Bilder eines kleineren Feuers. Presseberichten zufolge wurde auch scharf geschossen, mindestens ein Demonstrant erlitt eine Schussverletzung am Arm.

Nach einem Bericht der Zeitung „O Globo“ wurden insgesamt 20 Polizisten und zehn Demonstranten verletzt. Ein Polizeifahrzeug sei in Brand gesetzt worden.

„Ich lass die WM sausen“

In Rio riefen die Demonstranten: „Rio wird stillstehen, wenn die Stadt die Preise nicht verringert.“ Auf Plakaten forderten sie ein „besseres Brasilien“, ein Ende der Korruption und mehr Geld für Hospitäler, Schulen und Universitäten.

„Ich lass' die WM sausen und will mehr Geld für Gesundheit und Bildung“, skandierten die Teilnehmer der Demonstration, zu der vor allem in Sozialen Netzwerken im Internet aufgerufen worden war.

„Als Brasilianer, der täglich in überfüllte Busse steigt und in einer unterfinanzierten Universität studiert, fühle ich mich verpflichtet, Teil dieser Revolution zu sein“, sagte der 21-jährige Student Gael Rodrigues Honorio.

Proteste auch in São Paulo und Brasilia

In São Paulo zogen rund 65.000 Menschen friedlich durch die Straßen, einige Protestler demonstrierten vor dem Landesparlament. Wie in Brasilia kam es jedoch trotz der gespannten Stimmung nicht zu Ausschreitungen.

Die Polizei verhielt sich außer bei Straßenschlachten in Belo Horizonte sehr zurückhaltend. Dort setzte die Polizei Tränengas gegen die rund 30.000 Demonstranten ein, um sie vom Mineirao-Stadion fernzuhalten, wo das Confederations-Cup-Spiel Nigeria gegen Tahiti stattfand.

In der Hauptstadt Brasilia stürmten Demonstranten das Gelände des Nationalkongresses, das durch die avantgardistische Architektur von Oscar Niemeyer weltbekannt ist. Rund 200 Personen besetzten das Dach des Regierungsgebäudes stundenlang und feierten ihren Erfolg mit Liedern und schwenkten brasilianische Flaggen.

„Der Kongress ist unser“, riefen sie. Einige Demonstranten versuchten, in das Gebäude einzudringen. Der Präsidentenpalast Palácio do Planalto wurde massiv von Sicherheitskräften abgeschirmt. Befürchtete Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizei blieben zunächst aus.

Einige Fenster gingen zu Bruch, die Polizei ging nicht mit Gewalt gegen diese Aktion vor. Auf Aufforderung der Polizei verließen die Protestler das Dach aber wieder. Anschließend bildeten rund 5000 Protestler eine Menschenkette rund um den Komplex.

In der Hauptstadt Brasília versammelten sich Tausende Demonstranten vor dem Nationalkongressgebäude, Hunderte junge Menschen drangen auf ein Zwischendach des Kongresses vor, wo Brasiliens Senat und das Abgeordnetenhaus ihren Sitz haben.

Auch in der Hafenstadt Porto Alegre kam es zu Sachbeschädigungen. Dort setzten Demonstranten einen Bus in Brand und bewarfen leere Pendlerzüge mit Steinen.

Rousseff räumt friedliches Demo-Recht ein

Das enorme Ausmaß der Proteste hat in Brasilien für Überraschung gesorgt, denn sie finden nach einer langen Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs statt. Doch die steigende Inflation und die zunehmende Gewalt unter der Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff beunruhigen viele Brasilianer.

Brasiliens Wirtschaftswachstum lag im ersten Quartal 2013 nur noch bei 0,6 Prozent. Die Inflationsrate stieg hingegen bis Mai auf 6,5 Prozent, die Lebensmittelpreise stiegen sogar um 13 Prozent.

Rousseff versuchte am Montagabend, die Situation zu entspannen und erklärte, es sei das Recht der Demonstranten, friedlich zu protestieren: „Es ist das Naturell der Jugend, zu demonstrieren.“

Damit meinte sie aber ausdrücklich nicht die Randale vor dem Regionalparlament von Rio. Dessen Präsident, Paulo Mello, fand klare Worte für die Attacken der Vermummten, die er als „Akt des Terrorismus“ bezeichnete.

Die Demonstrationen vom Montag waren die größten seit den Protesten gegen den damaligen Präsidenten Fernando Collor de Mello, der durch einen Korruptionsskandal zum Rücktritt gezwungen wurde.

Ausgangspunkt der Demonstrationen war vor über zwei Wochen die Erhöhung der Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel in São Paulo um weniger als zehn Cent.

Kurz darauf kritisierten Demonstranten, dass zu wenig in öffentliche Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit invertiert werde. Korrupte Politiker sowie fehlende Transparenz seitens der Regierenden sind weitere Kritikpunkte der Bewegung.

Zudem wenden sich die Proteste gegen die hohen Kosten, die die Fußball-WM 2014 und die Olympiade 2016 verursachen. Derzeit wird in Brasilien in Vorbereitung auf die Fußball-WM der Confederations-Cup ausgetragen.

Im Juli wird der Papst zum Weltjugendtag erwartet. Auch die Wut über Polizeigewalt beförderte die Protestbewegung.

„Korruption ist weit verbreitet“

Am Donnerstag gab es bei einer Demonstration schwere Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizei. Doch längst geht es um mehr als das: „Das ist ein kommunaler Aufschrei, der sagt: Wir sind nicht zufrieden“, sagte eine Demonstrantin in São Paulo, Maria Claudia Cardoso, die mit ihrem 16-jährigen Sohn gekommen war.

„Wir werden von den Steuern massakriert – und wenn wir morgens zur Arbeit gehen, wissen wir dennoch nicht, ob wir es wegen der Gewalt nach Hause schaffen. Wir haben keine guten Schulen für unsere Kinder. Unsere Krankenhäuser sind in einem schlimmen Zustand. Korruption ist weit verbreitet. Diese Proteste werden Geschichte machen und unseren Politikern klar machen, dass wir uns das nicht mehr gefallen lassen.“

Eine andere Mutter, Sandra Amalfe, sagte: „Wir brauchen bessere Bildung, Krankenhäuser und Sicherheit - nicht Milliarden, die für die Fußballweltmeisterschaft ausgegeben werden.“

Fifa weist Verantwortung von sich

Kurz vor den Protesten am Montag warnte Sportminister Aldo Rebelo: „Wir werden es nicht zulassen, dass Demonstrationen die Ereignisse stören, die wir hier veranstalten wollen.“

Der Fußball-Weltverband Fifa als Ausrichter des Confed Cups hatte am Tag zuvor nach vorangegangenen Ausschreitungen in Rio de Janeiro und Recife erneut nur mit einem Schulterzucken reagiert und keinen Handlungsbedarf erkannt.

„Wir respektieren die Demonstranten und ihr Grundrecht auf Meinungsfreiheit“, sagte Sprecher Pekka Odriozola. Die Fifa stehe mit den lokalen Behörden in engem Kontakt, habe jedoch keinen Einfluss auf die Ereignisse: „Wir sind nur im Stadion zuständig.“

Noch bis Ende Juni wird in Brasilien der Confed Cup ausgetragen. Allein für die Fußballweltmeisterschaft rechnet Brasilien mit Kosten von umgerechnet rund elf Milliarden Euro.