Aus der ganzen Welt schicken Menschen auf Partnersuche Briefe an einen 500 Jahre alten Baum in der Nähe von Eutin. Manche Ehe ist daraus entstanden.

Ohne Hinweisschild wäre sie schwer zu finden an der schmalen Straße im Dodauer Forst, ein paar Kilometer hinter Eutin. Zuerst sieht man vor lauter Buchen die Eiche nicht. Sie steht auf einer Lichtung, knorrig, eigensinnig, ein gewaltiger Baum mit fünf Meter Stammumfang, umgeben von Buschwindröschen und Waldmeister. Sichtlich ein Veteran: Die Krone braucht Stützbalken, große Äste sind bei Sturm schon herausgebrochen, die Löcher wurden mit Baumkitt verschlossen. Bis auf eins, nur 30 Zentimeter groß in etwa drei Meter Höhe. Man erreicht es über eine Holzleiter – Deutschlands romantischsten Briefkasten.

Jeden Tag außer sonntags fährt Zusteller Martin Kurt auf den schmalen Parkplatz an der Straße und bringt der Eiche ihre Post. Die kommt aus dem In- und Ausland und ist gerichtet: „An die Bräutigamseiche, Dodauer Forst, 23701 Eutin“. Kurt steckt die Briefe und Postkarten in das Astloch und fährt wieder weg. Und dann dauert es nicht lange, bis die ersten Leser eintreffen.

Gerade sitzen zwei Mütter mit zwei kleinen Mädchen auf der Bank am Rand der Lichtung und lesen laut vor. „Ich bin zwar schon verheiratet, aber wir führen eine offene Ehe“, schreibt „Uschi“. Über netten Schriftverkehr würde sie sich sehr freuen und sei „mal gespannt, was für interessante Menschen sich bei mir melden“. Die beiden Kinder sind fasziniert. „Was ist eine offene Ehe? Und wenn nun einer alle Briefe rausnimmt und behält?“ Das wäre nicht fair, sagt eine Mutter und übergeht die erste Frage elegant. „Die Leute haben sich beim Schreiben ja was gewünscht und extra eine Marke draufgeklebt. Man darf einen Brief nur mitnehmen, wenn man den Wunsch erfüllen will.“

Keine zehn Minuten später biegt ein Reisebus aus Eutin auf den Parkplatz. Eine 21-köpfige Touristengruppe stapft durch den Buchenwald heran. Der Tourleiter mit Cowboyhut erklärt den staunenden Besuchern die Eiche und ihre Geschichte. Um 1890 verliebte sich die Tochter des Dodauer Oberforstmeisters in einen jungen Schokoladefabrikanten aus Leipzig, einen Herrn Schütte-Felsche, der sich gerade in Ostholstein aufhielt. Ihr Vater war nicht begeistert und verbot den Kontakt. Um heimlich ihre Liebesbriefe auszutauschen, nutzten die jungen Leute die Eiche mit dem Astloch. Schließlich hatte der Oberforstmeister ein Einsehen, und am 2. Juni 1891 wurde das Paar unter der Eiche getraut. „Also ich weiß nicht“, meint eine Dame aus der Reisegruppe zu ihrem Mann, „würdest du einen Brief an die Eiche schreiben?“ „Nee“, sagt er, „Ich bin ein Mann des gesprochenen Worts.“ Jetzt geht’s zurück zum Bus.

Die Hochzeit unter der Eiche sprach sich herum. Auch andere begannen, ihre Liebeskorrespondenz oder Partnerwünsche per Hand in das Astloch zu stecken. Als sogar Briefe von außerhalb eintrafen, wurde 1927 die Leiter angebracht, und die Post begann, die Briefe zuzustellen.

„Gabi“ hat für ihre Freundin Silvia aus Ravensburg an die Eiche geschrieben, weil Silvia sich nicht traut. „Sie ist seit einigen Jahren geschieden und sucht einen Tanzbein schwingenden Mann, in den sie sich verlieben kann.“ Er solle mindestens 1,80 Meter groß und höchstens 53 Jahre alt sein. Silvia würde „für eine große Liebe sogar in den Norden ziehen“. Es folgt eine E-Mail-Adresse. Also bitte, Freunde des Rumba und Tango, auf zur Eiche!

Manche der Briefe verraten Dating-Erfahrung. Früher wurde die Telefonnummer angegeben, ein Rückruf kostet Herzklopfen. Das Internet macht es leichter: In einer Mail fallen Selbstauskünfte oft so gefiltert wie das Sonnenlicht durch die jungen Buchenblätter – zartgrün, positiv und ein bisschen verschwommen. Wenn dem Empfänger der Ton nicht gefällt, wird einfach gelöscht. Der Eiche ist das egal. Sie ist ein Postfach der Wünsche und Hoffnungen, sie ist ein Hort der Entschleunigung. Ein Brief wird mit der Hand geschrieben, mit der Post geschickt, kommt in Eutin an, wird ausgetragen. Der Leser nimmt ihn mit, tüftelt an einer Antwort. Wohnen beide weit auseinander, wird erstmal der Atlas rausgesucht. Es ist eine Prozedur der langen Wege und Wartezeiten, der persönlichen Merkmale. Genau das macht den Zauber aus, den Dating-Börsen nicht bieten können.

„Liebe Eiche, ich habe gehört, dass du die Magie besitzt, Menschen zueinander zu führen“, beginnt eine junge Frau aus Ostholstein ihren Brief. Sie gibt ihre Mobilnummer an. „Meine beste Freundin hatte die Idee“, sagt sie am Telefon, ihren Namen möchte sie nicht nennen. „Vom Internet-Dating halte ich sowieso nicht so viel. Da finde ich diesen Weg viel schöner und gefühlvoller. Ich habe gar keine große Erwartung. Mal sehen, was kommt.“

Was schon alles gekommen ist, hat niemand besser im Blick als Karl Heinz Martens, 69, der vor Martin Kurt mehr als 20 Jahre lang Zusteller der Eiche war. Martens selbst hat seine Frau über die Eiche gefunden. Nachdem ihn ein Fernseh-Team auf seiner Tour begleitet hatte, schrieb eine Dame aus dem Saarland einen Brief direkt „an den Zusteller der Bräutigamseiche“: „Ich möchte Sie gern kennenlernen. Sie sind mein Typ.“ Den Brief hat Martens natürlich geöffnet. Nach ein paar Telefonaten packte er Koffer und Hund ins Auto und fuhr an die Saar. Inzwischen ist er seit 18 Jahren mit Renate verheiratet.

Noch heute bittet ihn die Stadt Eutin um Sonderführungen zum berühmten Briefkasten. Seit das Goethe-Institut über die Eiche in einem Deutsch-Lehrbuch berichtete, kommen auch Briefe aus Skandinavien, Afrika, Südamerika, sogar aus China, sagt Martens. Manchmal schwillt die Zahl der Briefe plötzlich an. „Wenn Sie jetzt in der Zeitung darüber schreiben, werden es wieder 40 bis 50 Briefe pro Tag sein. Und die finden ihre Abnehmer. An der Eiche herrscht ja ein Kommen und Gehen. Das Erstaunliche ist ja, dass die Kerle genauso die Leiter hochklettern wie die Frauen“, sagt Martens.

Mit einigen anderen Eichen-Paaren hat er noch Kontakt, insgesamt sollen es mehr als hundert sein. Viele kommen „ihre“ Eiche immer noch besuchen. „Da waren zwei Leute in Nordrhein-Westfalen, er war hier zur Kur, sie machte Urlaub im Bayerischen Wald. Er fand ihren Brief in der Eiche. Und dann stellten sie fest, dass sie zu Hause nur 20 Kilometer voneinander entfernt wohnten. So haben sie zueinander gefunden.“

Eben war es noch sonnig, jetzt ziehen Wolken auf. Bis auf ein aufgeregtes Amselmännchen ist es still. Bedächtig stehen die Buchen im Ring um die Eiche, ein Baum wie für Caspar David Friedrich. Mehr als 500 Jahre alt soll er sein. Die Borke hat Falten, gegen die Keith Richards aussieht wie ein Babyface. Von der Straße kommt eine junge Frau, geht zielstrebig zur Leiter, steigt hinauf und vertieft sich in die Lektüre. Merle, 35 stammt aus Eutin und wohnt heute am Bodensee. Aber wenn sie in der alten Heimat ist, guckt sie bei der Eiche vorbei. Sie stelle sich die Liebessuchenden vor wie in dem alten Volkslied von den zwei Königskindern, die zueinander nicht kommen können, sagt sie. Aber diese Eiche macht es möglich. „Das ist ein ganz romantischer Brauch. Dass es so was heute noch gibt, und dann noch an einem so schönen Ort, finde ich wunderbar.“