Der Schriftsteller Johannes K. Soyener spürte im Bremer Staatsarchiv Akten auf, die nur einen Schluss zulassen: Die Bark hätte niemals auslaufen dürfen.

Hamburg. Am 21. September 1957 um 15.01 Uhr fängt die britische Hauptküstenfunkstelle Portishead Radio einen Funkspruch auf: "SOS. SOS. Viermastbark ,Pamir' in schwerem Hurrikan. Position 35,57 Nord 40,20 West. Alle Segel verloren. 45 Grad Schlagseite. Gefahr des Sinkens." Zwanzig Minuten später reißen vierzehn Meter hohe Wogen den Großsegler in die Tiefe. Die größte deutsche Schifffahrtskatastrophe der Nachkriegszeit erschüttert die Republik, mit den Angehörigen bangen, hoffen, trauern Millionen Menschen. 80 von 86 Besatzungsmitgliedern, meist junge Seekadetten, ertrinken.

Der aktuelle "Spiegel" wirft jetzt ein ganz neues Licht auf die Ereignisse. Auf neun Seiten widmet sich das Magazin den Hintergründen der Katastrophe - und zitiert dabei aus einem neuen Buch. Danach war die "Pamir", der Stolz der deutschen Handelsflotte, wohl nicht mehr weit von dem entfernt, was Matrosen ein Totenschiff, einen Seelenverkäufer nennen. Am Rumpf fraß Rost, das Schiff leckte, für dringend notwendige Reparaturen fehlte das Geld, Profitstreben erhöhte das Risiko, und ein überlasteter Funker bekam Sturmwarnungen nicht richtig mit.

"Vieles davon trifft zu", bestätigt einer der letzten drei Überlebenden, der Kochsmaat Karl-Otto Dummer (75), der allein in einem umgebauten Hühnerstall am Stadtrand von Lütjenburg wohnt. "Dass der Rumpf halb durchgerostet war, habe ich auch schon im zweiten meiner beiden eigenen Bücher dokumentiert. Anderes ist mir dagegen völlig neu. Dass dringend nötige Reparaturen unterblieben, höre ich jetzt zum ersten Mal."

Der Autor, der Bremer Schriftsteller Johannes K. Soyener (61), stützt sich auf Akten aus dem Bremer Staatsarchiv. Die 13 Kartons stammen von der Stiftung "Pamir und Passat". Auf Grundlage dieser Dokumente verfasste Soyener, der eigentlich Johannes Klaus Loohs heißt, seinen fünften historischen Roman: "Sturmlegende. Die letzte Fahrt der Pamir". Auf die Idee brachte den leidenschaftlichen Segler, der dreimal den Atlantik überquerte, der 327 Seiten dicke Bericht des Lübecker Seeamts, auf den er schon in den 80er-Jahren in einer Buchhandlung gestoßen war. Das Amt verhandelte über die Katastrophe vom 6. bis 10., am 14. und am 20. Januar 1958. Am 21. Januar verkündet der Vorsitzende, Amtsgerichtsrat Luhmann, den Spruch. Hauptursachen für die Katastrophe der "Pamir" waren demnach:

  • Falsche Segelführung. Die "Pamir" hatte im Hurrikan noch elf bis zwölf Segel gesetzt. Sachverständige sagten aus, sie hätten bei diesem Winddruck ohne Segel oder mit weniger Segeln manövriert.
  • Nicht ausreichende Stabilität durch Beladung der Tieftanks mit Gerste statt mit Ballastwasser. Ungesagt blieb: Mehr Fracht bedeutete mehr Einnahmen.
  • Die verrutschte Gerstenladung. Gerste ist so glatt, dass sie sich wie eine Flüssigkeit verhält. Bei solcher Ladung ist Stabilität besonders wichtig.
  • Wassereinbruch in nicht orkansicher abgedichtete Aufbauten. Fast bis zuletzt glaubte niemand an Bord, dass das Schiff untergehen könnte; es wurde gegessen, geraucht, fotografiert und gefilmt.
  • Mangelnde praktische Erfahrung der Schiffsführung. Kapitän Johannes Diebitsch, für den erkrankten Hermann Eggers eingesprungen, war zwar als Erster Offizier auf dem Segelschulschiff "Deutschland" gefahren, aber das lag 25 Jahre zurück.

Der Seeamtsspruch stellt fest: "Bei geflutetem Tieftank (ohne Gerstenladung), bei wasserdichten Aufbauten (Verschlusszustand), bei nicht verrutschter Ladung und einer der Erfahrung entsprechenden Segelführung wäre das Schiff nicht gekentert." Denn: "Es sind keine Anhaltspunkte für die Annahme gegeben, dass der Erhaltungszustand des Schiffskörpers bei dem Untergang eine nachhaltige Rolle gespielt hätte."

An dieser Feststellung weckt Soyeners Roman jetzt ernste Zweifel.

Die Recherchen des Schriftstellers führen in den März 1957 zurück. Damals hätten sich in Hamburg 23 Herren getroffen, um über die Zukunft zweier legendärer Großsegler zu sprechen: der "Pamir", die schon 1950 verschrottet werden sollte, und der fast baugleichen "Passat". Die Gründung einer Stiftung hatte die Schiffe davor bewahrt, abgewrackt zu werden. Stattdessen sollten sie als Schulschiffe Charakter und Disziplin junger Seeleute härten.

In der Runde saßen etwa der Reeder John T. Essberger, Harald Schuldt von der Reederei Zerssen & Co., der dort für die Segelschiffe zuständige Inspektor Fritz Dominik, der Stiftungsvorsitzende Dr. Otto Wachs und hohe Beamte aus dem Bundesverkehrsministerium. Es ging um finanzielle Probleme: Die Segler fuhren Verluste ein, die erhoffte Finanzhilfe der Länder Bremen und Hamburg dünnte aus - mit fatalen Folgen.

Vor der fünften Reise drängt Kapitän Eggers, die Laderäume müssten endlich "unter Farbe kommen", und kritisiert Instandsetzungsarbeiten bei Blohm + Voss: "Zum Verzweifeln ist es mit unserem Hochdeck; was B + V gemacht haben, lasse ich wieder rausreißen. Ich befürchte bei Regenwetter, dass ein Offz. ankommt mit verdorbenen Sachen, gibt es dafür eine Versicherung gegen Effektenschäden?"

Segelschiff-Inspektor Dominik fordert daraufhin: "Die Laderäume der Pamir müssen entrostet und konserviert werden." Falls das nicht geschehe, "laufen wir Gefahr, dass die Behörden in Argentinien das Schiff ablehnen". Und: "Das Hochdeck leckt an den verschiedensten Stellen stark. Teilweise gehen die Decksplanken bei Regen direkt hoch." Grund: Das darunter liegende Stahldeck ist "sehr stark korrodiert", sodass "auch durch das Einziehen neuer Planken und durch Kalfatern das Deck nicht mehr dicht zu bekommen ist."

Doch für Reparaturen ist kein Geld da. Das Geschäftsjahr endete mit über 245 000 Mark Verlust. Nach Bezahlung der dringendsten Rechnungen in Höhe von mehr als 188 000 Mark bleiben Verbindlichkeiten von über 391 000 Mark, zehn Reedereien steigen aus der Stiftung aus.

Kapitän Diebitsch kämpft gegen die Kosten an. Als in Buenos Aires die Hafenarbeiter streiken, lässt er das Schüttgut von eigenen Leuten trimmen, um die Liegekosten von täglich 3000 Mark zu reduzieren - auch nach Karl-Otto Dummer eine Todsünde: "Nur Hafenarbeiter wissen, wie man eine so gefährliche Ladung wie Gerste verteilt. Das können nicht mal Ladeoffiziere, geschweige denn unerfahrene Kadetten. Aber damals hat keiner gewagt, etwas zu sagen."

Dazu kommt: Nicht nur der Kapitän, auch Funkoffizier Wilhelm Siemers ist neu - und soll nebenbei auch noch den Zahlmeister machen. Damit ist er offenbar überfordert: Womöglich hat er die ersten Hurrikan-Warnungen glatt überhört. "Das habe ich auch immer geglaubt", sagt Dummer, "aber natürlich lässt sich das nicht beweisen. Ich bin erstaunt, dass jemand das jetzt so deutlich sagt."

Angerostet, mit tückischer Ladung und unter einem unerfahrenen, schlecht informierten Kapitän steuert die "Pamir" in die Katastrophe, die 80 Seeleute das Leben kostet. Besonders empört Dummer, dass den Eignern nach Auszahlung der Versicherungssumme angeblich sogar noch ein "nicht unbeträchtlicher Buchgewinn" blieb.

"Ich halte alles, was Soyener schreibt, für plausibel", sagt er, "aber es ist leider ein Roman, kein Tatsachenbericht. Für mich gibt es wohl zwanzig Möglichkeiten, warum die ,Pamir' unterging - und alle Gründe sind ein bisschen wahr."