Das Opfer Jaycee Lee Dugard trifft zum ersten Mal seine Familie wieder. Der Stiefvater sagt: “Sie fühlt sich schuldig.“

Hamburg/San Francisco. "Gesundheitlich geht es ihnen gut, aber seit 18 Jahren in einem Hinterhof zu leben hinterlässt seine Spuren." Mit diesen kurzen Worten beschrieb der Polizeisprecher von Antioch, Fred Kollar, den Zustand, in dem sich Jaycee Lee Dugard (29) nach ihrer Befreiung aus einem 18 Jahre dauernden Martyrium befindet. Ob er damit allerdings auch nur im Ansatz die Empfindungen der jungen Frau und ihrer elf und 15 Jahre alten Töchter Angel und Starlite wiedergeben kann, darf bezweifelt werden. Die kleine Familie wohnt zurzeit in einem Motel irgendwo im Norden Kaliforniens und versucht, sich langsam an die neue Welt zu gewöhnen, von der sie in ihrem Gefängnis im Hinterhof des Hauses von Phillip (58) und Nancy (54) Garrido so lange Zeit abgeschottet war.

Wie den Dreien die Umstellung gelingt, davon berichten Angehörige, die Jaycee nun endlich treffen durften. Nachdem das damals elf Jahre alte Mädchen 1991 von einer Bushaltestelle entführt worden war und auch aufwendige Suchaktionen keine Hinweise auf seinen Verbleib gebracht hatten, verloren die Eltern alle Hoffnung. Nun haben Jaycee und ihre Familie sich wieder, müssen sich allerdings erst einmal neu kennenlernen. Ihr Stiefvater Carl Probyn berichtete von dem ersten Treffen zwischen Jaycee, ihrer Mutter Terry und ihrer Stiefschwester Shayna am Donnerstag: "Jaycee begrüßte ihre Mutter mit den Worten: 'Hi Mama, ich habe Babys.'"

Das Wiedersehen sei sehr gut verlaufen, Jaycee sehe gut aus, fast so wie bei ihrer Entführung. Allerdings sei auch deutlich geworden, wie sehr die Gefangenschaft Jaycee beeinflusst habe. Carl Probyn: "Sie fühlt sich schuldig, dass sie mit diesem Mann eine so enge Bindung eingegangen ist und nie versucht hat, zu fliehen. Er hatte sie 18 Jahre, wir hatten sie nur 11 Jahre." Wilma Probyn, die 83 Jahre alte Stiefgroßmutter des Entführungsopfers, sagte, sie glaube, dass Jaycee nur am Leben sei, weil sie sich so an ihren Entführer gebunden habe.

Gegen Phillip und Nancy Garrido, die Peiniger der jungen Frau, wurde noch am Freitag Anklage in 29 Punkten erhoben, unter anderem wegen Entführung, Vergewaltigung und Freiheitsberaubung. Das Ehepaar, das sich während einer langährigen Haftstrafe Phillip Garridos im Gefängnis kennengelernt hatte, plädierte in allen Punkten auf "nicht schuldig". Phillip Garrido hatte bereits vergangene Woche in einem Interview gesagt, die Öffentlichkeit werde beeindruckt sein, wenn die ganze Geschichte öffentlich werden würde. "Es war widerwärtig, was mit mir am Anfang passiert ist. Aber ich habe mein Leben in Ordnung gebracht." Im Grunde sei es eine "starke, herzerwärmende Geschichte".

Die bisherigen Ermittlungen weisen allerdings eher auf eine unvorstellbare Abartigkeit hin, mit der das Paar Jaycee entführte und jahrelang quälte. Sie wurde immer wieder vergewaltigt und musste mit ihren Töchtern, die Phillip Garrido mit ihr zeugte, in einem Verschlag leben, abgeschirmt von fremden Blicken durch Zelte und Planen.

Allerdings scheinen auch massive Ermittlungspannen zu der langen Dauer der Gefangenschaft beigetragen zu haben. Mehrmals war die Polizei seit 1991 auf dem Grundstück der Garridos, das erste Mal nachweislich 1993. 2006 ging sogar ein Notruf bei der Polizei ein, in dem eine Nachbarin schilderte, in Garridos Garten lebten Frauen in Zelten. Doch der eintreffende Beamte unterhielt sich lediglich im Vorgarten mit dem Entführer, den Durchgang zum Hinterhof entdeckte er nicht. Erst als Phillip Garrido, der als religiöser Fanatiker gilt, angeblich Engelsstimmen hört und von den Nachbarn "creepy Phil" (gruseliger Phil) genannt wird, am vergangenen Mittwoch mit seinen Töchtern auf einem Universitätscampus Flugblätter verteilte, wurde eine Polizistin auf ihn aufmerksam. Zu einem Termin mit seinem Bewährungshelfer brachte er Jaycee mit. Im Gespräch gab er die Entführung zu. Die Polizei rollt nun auch neun Mordfälle aus den 90er-Jahren neu auf, mit denen Garrido im Zusammenhang stehen könnte.