Zu dem Unfall kam es, als ein Gabelstapler ein 200-Liter-Fass mit dem Stoff Phenylmercaptan transportierte. Dabei trat das Gift aus.

Homberg/Efze. In einem Zelt vor der Stadthalle in Homberg (Efze) duschen sich die Männer die möglichen Reste der Giftwolke vom Körper. Vor dem Eingang müssen sie sich bis auf die Unterwäsche ausziehen. Helfer mit orangefarbenen Schutzanzügen und Mundschutz stopfen die Klamotten in blaue Müllsäcke. Ob eine Reinigung ausreicht oder die Kleidung vernichtet werden muss, steht noch nicht fest. Der Katastrophenschutz verteilt Trainingsanzüge und Decken. „Wir sehen aus, als kämen wir vom Frühsport“, scherzt Torsten Schröder. Doch eigentlich ist dem Lastwagenfahrer nicht zum Spaßen zumute. Er macht sich Sorgen, wie fast alle.

In der Nacht zum Mittwoch entdeckte ein Gabelstaplerfahrer in einer Speditionsfirma ein Leck in einem Fass mit giftigem Inhalt. Nach Angaben der Polizei liefen rund 30 Liter der ätzenden Schwefelverbindung aus, giftige Dämpfe breiteten sich aus. Sofort wurde Katastrophenalarm ausgelöst. Über 200 Einsatzkräfte aus verschiedenen Landkreisen eilten zum Unglücksort. 16 Menschen kamen mit Atemwegsreizungen ins Krankenhaus. Weitere 130 Arbeiter aus dem Industriegebiet wurden zur Dekontamination in die Stadthalle gebracht. Betroffen waren auch Einsatzkräfte von Feuerwehr, Rettungsdienst und Polizei. Die Anwohner wurden per Lautsprecher aus dem Schlaf gerissen und dringend gebeten, Fenster und Türen geschlossen zu halten.

Beißender Geruch an der Unglücksstelle

„Ich merke noch nichts“, sagt Lkw-Fahrer Schröder und zuckt mit den Schultern. Er hat Angst, dass sich das noch ändern kann. Wie aus dem Merkblatt der Rettungskräfte hervorgeht, kann es bis zu 48 Stunden dauern, bis die Symptome auftreten, die Liste der Gefahren reicht bis zum Lungenödem. Als sich das Unglück ereignete, befand sich der Lkw-Fahrer im Industriepark und atmete die Dämpfe ein. Beißend sei der Geruch, berichtet er, und auf der Zunge habe er etwas gemerkt.

Müde zieht Torsten Schröder an einer Zigarette, die Füße stecken in dicken Wollsocken und offenen Badeschlappen, in seiner Hand baumelt ein Plastikbeutel mit Handy und Geldbörse. „Man weiß gar nicht, um was es sich bei dem Stoff genau handelt“, sagt er, „das ist bedrückend.“ Ein Kollege von ihm liest den Fachbegriff für den giftigen Stoff vom Merkblatt ab: Phenylmercaptan. „Damit kann ich nicht viel anfangen“, sagt er. Auch die anderen Männer gucken etwas ratlos.

Hochgiftige Schwefelverbindung

Der Polizeisprecher Reinhard Giesa sagt: „Es handelt es sich um einen chemischen Grundstoff.“ Der ätzende Stoff sei hochgiftig, reize die Schleimhäute und könne zu einer Schädigung der Lunge führen. Die Gefahr hänge von der Konzentration ab. Je dichter sich eine Person in der Nähe des Giftfasses befunden habe, desto gefährlicher. Die Warnung an die Bevölkerung sei eine reine Vorsichtsmaßnahme gewesen. Die Konzentration dürfte sich so weit verflüchtigt haben, dass davon keine akute Gefahr ausgehe, sagte Giesa.

Der Giftstoff sei schwerer als Luft und vom Wind über freie Felder Richtung Caßdorf weggeweht worden. Der beißende Geruch sei bis zum Ortseingang wahrnehmbar gewesen. Bei gesundheitlichen Beschwerden sollten sich die Bewohner an ihren Hausarzt wenden, rät der Polizeisprecher. Der Industriepark blieb vorerst gesperrt. Das defekte Fass sei inzwischen abgedichtet, der Stoff müsse aber noch von Spezialisten geborgen und die unmittelbar betroffenen Fahrzeuge gereinigt werden.

Halskratzen und Schwindelgefühl

Während die Arbeiter aus der Region nach dem Duschen nach Hause dürfen, sitzen die Lastwagenfahrer fest. „Das Gift muss erst weg, vorher können wir hier nicht weg“, sagt Sigmund Kolb, der noch nach Bayreuth muss. Um seinen Hals baumelt ein Schild vom Roten Kreuz mit seinem Namen und Geburtsdatum. Der Lkw-Fahrer hat in seinem Fahrzeug auf dem Gelände der Firma geschlafen, als die giftigen Dämpfe durch die Standheizung krochen. „Ich wurde vom Gestank aufgeweckt“, berichtet er. Der massive Mann gibt sich optimistisch: Bei 1,80 Meter könnten ihm die Dämpfe auf dem Boden kaum etwas anhaben. Allerdings gesteht der Familienvater, dass die Stimme seiner Ehefrau am Telefon belegt geklungen habe.

Sein Kollege Jens Schwarz im grauen Jogginganzug bekennt, schon „ein bisschen Angst“ zu haben: „Das ist nicht so lustig.“ Die Giftwolke habe wie ein offener Gullydeckel gerochen, er habe ein Brennen im Hals und im Bauch gespürt. Ein Polizist, der die Nacht am Unfallort im Einsatz war, berichtet von Halskratzen und leichtem Schwindelgefühl. Er habe kaum geschlafen, sei fix und fertig, sagt er. Der Beamte wirft sich den Müllsack mit seiner Uniform über die Schulter und stapft nach Hause, nur in grauen Wollsocken über feuchten Asphalt, die Badeschlappen sind schon alle vergeben.