Weil sich der Jurist duckte, erschoss der Angeklagte den Staatsanwalt. Bluttat von Dachau löst Sicherheitsdebatte aus

Dachau. Ein Gesteck mit weißen Rosen vor dem Amtsgericht Dachau erinnerte gestern an die Todesschüsse: Mitten im Sitzungssaal hatte hier tags zuvor ein Angeklagter, ein bisher strafrechtlich unbescholtener Unternehmer, den jungen Staatsanwalt Tilman T., 31, erschossen. Der Beamte war erst seit einem Jahr auf seinem Posten. Er hinterlässt seine Ehefrau.

Das Entsetzen ist groß in der bayerischen Stadt. Ungehindert konnte der 54-jährige Rudolf U. die Pistole in den Saal bringen. Nun ist die Debatte um schärfere Sicherheitsvorkehrungen in Justizgebäuden entbrannt. Und doch scheint es keine Lösung zu geben, ein solches Verbrechen in der Zukunft sicher auszuschließen.

Es war ein Routineverfahren, wie es in Deutschland täglich Hunderte gibt. Der Angeklagte Rudolf U. hätte das Gericht sogar als freier Mann verlassen können: Immerhin war der Transportunternehmer nur zu einem Jahr auf Bewährung wegen Hinterziehung von Sozialabgaben verurteilt worden. Warum er plötzlich die Kontrolle über sich verlor und schoss, ist allen Beteiligten ein Rätsel. Aber Rudolf U. muss den Anschlag geplant haben, immerhin hatte er die Pistole der Marke FN, Kaliber 6,35 ins Amtsgericht Dachau geschmuggelt. Gestern wurde gegen ihn Haftbefehl wegen Mordes erlassen.

Es ist der Höhepunkt eines sozialen Abstiegs. Rudolf U. betrieb in einem Vorort von München eine kleine Firma für Umzüge, Transporte und Entsorgungen. In dem unscheinbaren Haus, in dem sein Büro untergebracht war, wohnte er auch. "Er sah aus, wie man sich einen typischen Lkw-Fahrer vorstellt - so ein Rockertyp", sagte ein Nachbar der Zeitung "tz". Vor zwei Jahren begann der Niedergang. Rudolf U., der nie sehr viel Wert auf seine Figur gelegt hatte und deutlich übergewichtig war, bekam einen Schlaganfall. Mit der Firma ging es bergab. Schließlich musste er Insolvenz anmelden. Aber U. hatte die Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 44 000 Euro für seine Angestellten nicht bezahlt. Die Justiz klagte den Unternehmer an.

Zu diesem Zeitpunkt war der Mann aus Dachau bereits seine Wohnung los und stand unter der Vormundschaft einer Betreuerin. Als er am Mittwoch vor Gericht erschien, war er ungepflegt, die Hose zerbeult, die Jacke fleckig, seine Haare fettig. Er wirkte unruhig, aufgeregt. Die "Süddeutsche Zeitung" zitierte einen Justizbeamten mit den Worten: "Ich hab's gewusst, dass was passieren wird. Der hat sich in der Verhandlung schon aufgeführt und war völlig uneinsichtig. Er hat sogar seine eigene Anwältin angeplärrt." Auch Helmut Seitz, Leiter der Strafrechtsabteilung im Justizministerium, sagte, es habe verbale Aggressionen gegeben. Obwohl dies bekannt war, konnte U. die Waffe in den Saal schmuggeln. Offenbar wollte er zunächst Richter Lukas N. töten. Wie die "Abendzeitung" berichtet, verlas der 35-Jährige gerade das Urteil, als der Angeklagte auf den 1,90 Meter großen Mann zielte. N. konnte sich ducken, sodass ihn zwei Schüsse verfehlten. Da richtete Rudolf U. seine Pistole auf den Staatsanwalt und gab drei weitere Schüsse ab. Der Jurist starb 40 Minuten später im Krankenhaus. Rudolf U. schweigt zu seinem Angriff. Er soll jetzt psychiatrisch untersucht werden.

Unterdessen ist die Diskussion um die Sicherheit in deutschen Gerichten entbrannt. "Es ist schon lange nicht mehr möglich, dass in jedem Sitzungssaal ein Wachtmeister ist", sagt Gerhard Zierl, Präsident des Münchner Amtsgerichts, das zu den größten seiner Art in Deutschland zählt. Es mangele nicht an der Technik, aber: "Sicherheit ist eine sehr personalintensive Sache." Nur in Nordrhein-Westfalen gibt es an allen Gerichten ständige Eingangskontrollen. "Wollte man das in Bayern umsetzen, bräuchte das Land anstatt der 800 Justizbeamten etwa die doppelte Zahl", sagt Ministerialdirigent Thomas Dickert. Es sei aber nicht gesagt, dass ständige Kontrollen politisch gewollt sind.