Bildungsministerin Annette Schavan will vollständige Aufklärung. Auch ein Heim der Berliner Hedwigschwestern steht unter Verdacht.

Frankfurt/Main/Berlin. Angesichts des Missbrauchsverdacht an der nichtkirchliche Odenwaldschule und weiteren Missbrauchsfällen an katholischen Schulen will nun auch Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) tätig werden. Schavan sagte der Zeitung „Bild am Sonntag“, sie werde in den kommenden Tagen mit dem amtierenden Präsidenten der Kultusministerkonferenz, dem bayerischen Unterrichtsminister Ludwig Spaenle (CSU), und den Vorsitzenden der Lehrerverbände über konkrete Hilfs- und Präventionsmaßnahmen beraten. Wo immer ein Verdacht bestehe, müsse es „null Toleranz“ geben und vollständige Aufklärung erfolgen, sagte Schavan.

Kurienkardinal Walter Kasper sprach von „abscheulichen“ und „unverzeihlichen“ Verbrechen, die mit „absoluter Entschlossenheit“ bestraft werden müssten. „Genug! In unserer Kirche muss aufgeräumt werden!“, sagte er der italienischen Zeitung „Repubblica“. Der enge Vertrauter von Papst Benedikt XVI. kündigte an, dass das Kirchenoberhaupt sich demnächst eingehend mit dem Thema beschäftigen werde. In einer von der Vatikanzeitung „Osservatore Romano“ am Samstag veröffentlichten Erklärung hieß es, der Vatikan dringe auf vollständige Aufklärung. Oberstes Ziel der Kirche sei es, „möglichen Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“.

Vorwürfe werden derweil auch gegen ein Kinderheim der Berliner Hedwigschwestern erhoben. In der ZDF- Sendung „Mona Lisa“ berichtete am Sonntag eine ehemalige Bewohnerin, dass sie in den 50er und 60er Jahren von einer Nonne über Jahre hinweg missbraucht wurde. Das heute 60-jährige Opfer spricht von ständigen Berührungen im Intimbereich; sie sollen begonnen haben, als sie gerade einmal acht Jahre alt war. „Man hört immer nur von den Priestern, dabei waren's doch die Nonnen genauso.“

Die Vorwürfe richten sich gegen eine heute 79 Jahre alte Berlinerin. Man habe Kontakt zur früheren Nonne aufgenommen, die schon 1986 aus dem Orden ausgetreten sei, sagte Thomas Gleißner, der von den Hedwigschwestern als Pressesprecher eingesetzt wurde. Die Ordensgemeinschaft sagte die Aufklärung der Vorfälle zu. „Wir sind tief betroffen über die Vorwürfe und werden alles daran setzen, diese rückhaltlos aufzuklären“, betonte Generaloberin Schwester Vincentia in einer Pressemitteilung. Zudem erklärte sie sich zu einem Gespräch mit der Betroffenen bereit. Das Kinderheim der Hedwigschwestern liegt in Berlin-Zehlendorf in direkter Nachbarschaft zum Mutterhaus „Sancta Maria“. Noch heute ist dort Platz für bis zu 80 Jungen und Mädchen.

Wie die „Frankfurter Rundschau“ am Sonnabend berichtete, soll es in der Odenwaldschule, einer Unesco -Modellschule im hessischen Heppenheim, zu zahlreichen Missbrauchsfällen gekommen sein. Betroffene Altschüler gingen 50 bis 100 Missbrauchsopfern aus. Die Schulleitung bestätigte den „jahrelangen Missbrauch von Schutzbefohlenen“, Der Vorstand hat nach Angaben der Zeitung den jahrelangen Missbrauch von Schutzbefohlenen durch Pädagogen eingeräumt.

Schulleiterin Margarita Kaufmann sagte dem Blatt: „Es ist für mich eine Tatsache, dass hier mindestens seit 1971 sexueller Missbrauch stattgefunden hat.“ Ehemalige Schüler berichteten der Zeitung davon, wie sie von Lehrern regelmäßig durch das Streicheln der Genitalien geweckt, wie sie als „sexuelle Dienstleister“ für ganze Wochenenden eingeteilt und wie sie zu Oralverkehr gezwungen worden seien. Einzelne Pädagogen hätten ihren Gästen Schüler zum sexuellen Missbrauch überlassen. Lehrkräfte hätten Schutzbefohlene geschlagen, mit Drogen und Alkohol versorgt oder beim gemeinschaftlichen Missbrauch eines Mädchens nicht eingegriffen.

Laut Kaufmann war bereits vor mehr als zehn Jahren bekannt geworden, dass der frühere Schulleiter in den 80er Jahren Schüler sexuell missbraucht hatte. Dieser habe nach der Aufdeckung der Vorwürfe Ende der 90er Jahre seine Ämter niedergelegt. Inzwischen sei klar, „dass weitere Kinder und Jugendliche in den Jahren von 1970 bis 1985 Opfer sexueller Übergriffe nicht nur durch den damaligen Leiter der Odenwaldschule geworden sind“, erklärte Kaufmann weiter.

1. SCHULE WILL "EIN ZWEITES ZUHAUSE" SEIN

2. HINTERGRUND ZUR ODENWALDSCHULE

Laut FR wurden erste Vorwürfe gegen den langjährigen Rektor Gerold Becker, der die Einrichtung von 1971 bis 1985 leitete und heute schwer krank sei, bereits vor zehn Jahren publik. Seinerzeit hätten ehemalige Schüler von massiven Übergriffen Beckers gegen 13-Jährige berichtet. Die Vorwürfe seien aber nur halbherzig aufgegriffen worden. „Es war eine Unterlassung und ein grober Fehler, dass die Schule damals nicht nachgeforscht hat“, sagte Kaufmann, die seit 2007 im Amt ist.

Sie selbst sei im vergangenen Jahr erneut von Altschülern angesprochen worden, die fürchteten, die Schule werde sich auch bei der 100-Jahr-Feier im April wieder ihrer Verantwortung entziehen. Daraufhin habe sie etliche Gespräche mit ehemaligen Schülern geführt und dabei erst „das wahre Ausmaß“ des Skandals erahnt. Kaufmann geht laut FR von mindestens drei Lehrern aus, die sich sexueller Übergriffe schuldig gemacht haben sollen. Von Zeugen habe sie „die Namen von 20 Opfern gehört“. Die Einrichtung war 1963 zur UNESCO-Modellschule für Reformpädagogik ernannt worden. Zu den ehemaligen Schülern gehören namhafte Persönlichkeiten wie der Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit oder ein Sohn des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker.

Beim Missbrauchskandal am Bad Godesberger Jesuiten-Gymnasium Aloisiuskolleg haben sich nach Informationen der „Kölnischen Rundschau“ 30 ehemalige Schüler sowie ein Schüler von heute gemeldet. Diese haben in den vergangenen vier Wochen Vorwürfe im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch vorgebracht, wie die Tageszeitung unter Berufung auf eine Arbeitsgruppe des Kollegs berichtet. Der Sprecher des Jesuitenkollegs, Robert Wittbrodt, erklärte, teilweise handele es sich um „heftige Berichte“ bis hin zu sexuellen Handlungen.

Gegen sechs Patres würden Vorwürfe erhoben, von denen fünf inzwischen verstorben seien. Die heftigsten Anschuldigungen beträfen strafrechtlich verjährte Vorfälle in den 50er und 60er Jahren. Allerdings ermittelt die Staatsanwaltschaft dem Bericht zufolge in einem Fall aus dem Jahr 2005 noch gegen den 82-Jährigen Pater, der angeblich demenzkrank ist. Auch der Missbrauchskandal bei den Regensburger Domspatzen hat größere Ausmaße als bisher bekannt. „Der Spiegel“ berichtete am Sonnabend, Therapeuten im Münchner Raum behandelten mehrere ehemalige Domspatzen, die durch sexuelle und andere körperliche Misshandlungen traumatisiert wurden.

Ein Betroffener aus dem Allgäu habe von grausamen Ritualen im Internat Etterzhausen berichtet, einer Vorschule für jüngere Schüler, aus dem sich Regenburgs Domspatzen rekrutierten. Dort habe Ende der 1950er Jahre der Direktor, ein katholischer Priester, härteste Strafen verhängt. So habe er oft auch in seinen Privaträumen ein „Nacktprügeln“ betrieben, bei dem sich die acht- bis neunjährigen Kinder entblößen mussten und Schläge mit der Hand bekamen.

Unterdessen wurden neue Einzelheiten des Missbrauchsskandals bei den Regensburger Domspatzen bekannt. Der Regisseur und Komponist Franz Wittenbrink, der bis 1967 im Regensburger Internat der Domspatzen lebte, sprach dem Bericht zufolge von einem „ausgeklügelten System sadistischer Strafen verbunden mit sexueller Lust“, das dort bestanden habe. Der damalige Internatsdirektor habe sich „abends im Schlafsaal zwei, drei von uns Jungs ausgesucht, die er in seine Wohnung mitnahm“. Dort habe es Rotwein gegeben und der Priester habe mit den Minderjährigen masturbiert. „Jeder wusste es“, sagte Wittenbrink, ein Neffe des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel (CSU).

„Warum der Papstbruder Georg Ratzinger, der seit 1964 Domkapellmeister war, davon nichts mitbekommen haben soll, ist mir unerklärlich.“ In seinem Jahrgang habe ein Mitschüler kurz vor dem Abitur Selbstmord begangen. Ratzinger (86) hatte im Bayerischen Rundfunk gesagt, ihm seien keine Missbrauchsfälle bei dem Knabenchor bekannt. Der Bruder von Papst Benedikt XVI leitete die Domspatzen von 1964 bis 1994.Er bestritt erneut, von den Vorfällen gewusst zu haben. Die Fälle hätten sich in den 50er Jahren abgespielt. Er aber habe die Domspatzen erst zwischen 1964 und 1994 geleitet, sagte er der italienischen Zeitung „La Repubblica“.

Die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU) forderte die Kirche zur konsequenten Zusammenarbeit mit der Justiz auf. „Es gibt Fälle, in denen es nicht so läuft, wie es laufen sollte“, sagte die CSU-Politkerin der „Süddeutschen Zeitung“. Es sei für sie unabdingbar, dass die Kirche sofort die Staatsanwaltschaft einschalte, wenn sie Hinweise auf Missbrauch erhalte. Wenn sich herausstelle, dass die Kirche der Staatsanwaltschaft bewusst Verdachtsfälle von Kindesmissbrauch verschwiegen habe, dann werde das Verhältnis von Staat und Kirche beschädigt. Sie forderte zudem, die Verjährungsfristen bei Kindesmissbrauch auf 30 Jahre zu erweitern. „Wenn es nach mir ginge, dann gäbe es hier überhaupt keine Verjährung – wie in der Schweiz“, sagte die CSU-Politikerin. Bisher verjähre sexueller Missbrauch an Kindern zehn Jahre nach dem 18. Geburtstag.

Ähnlich hatte sich Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) geäußert. Sie befürwortet die Einrichtung eines Runden Tisches zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle, wie sie in der „Welt am Sonntag“ bekräftigte. Dieser Tische solle nicht nur vorbeugend, sondern auch aufarbeitend tätig werden. Es sei erschütternd, dass täglich neue Missbrauchsfälle bekannt würden, sagte die FDP-Politikerin.