Jeder träumt vom großen Lottoglück, das wahrscheinlich nie kommt. Dabei lässt sich auch von scheinbar banalen Preisausschreiben gut leben.

Hamburg. Wenn Anne Bertram aus Hannover zum Einkaufen fährt, hat sie immer einen Stempel dabei. "Bertram" steht da, ohne Vorname, dazu ihre Adresse mit Straße, Hausnummer, Telefon. Der Stempel, der später zum Einsatz kommt, ist einer von zahlreichen Tricks, mit denen die 38-Jährige bei Gewinnspielen abräumt. Ihren Kleinwagen hat sie so gewonnen, an große Traumreisen und kleinere Wellness-Wochenenden haben sich Ehemann Carsten und Söhnchen Daniel fast schon gewöhnt. Handys, ein Theaterabo, Fußbälle und Fahrräder vom Mountainbike über das Renn- bis zum Klapprad - eben all die kleinen und großen, mehr oder weniger nützlichen Gewinne stapeln sich im Gartenschuppen hinter dem Haus. Natürlich hat Anne Bertram auch den Schuppen bei einem Preisausschreiben ergattert.

In der Innenstadt steuert die junge Frau einen Schuhladen an. Hier, weiß sie, gibt es oft Gewinnspiele. Die Lösungskarten dazu kann man draußen vor den Schaufenstern gleich in einen Glaskasten werfen. So auch an diesem Tag. Das Preisausschreiben lockt mit einem Hauptpreis: eine Reise auf die Seychellen, eine Woche für zwei Personen. Anne Bertram greift sich einen Stapel Gewinnkarten, her mit dem Namensstempel, klack, klack, klack, sie stöbert in ihrer Tasche nach einem Kugelschreiber und hinterlässt auf jeder Karte einen anderen Vornamen: Anne, Daniel, Carsten, dann auch noch die Namen der Schwiegereltern. Bevor die Karten dann im Glaskasten landen, knautscht Anne Bertram sie einmal kurz zusammen. "Ich habe mal gesehen", sagt sie, "wie bei einer Ziehung im Fernsehen Karten an der Glaswand haften blieben. Das kann so nicht passieren."

Es mag überraschen, aber auch im Zeitalter des Internets gibt es noch diese eingeschworene Gemeinde von Gewinnspielfans. Und ihr Medium ist trotz aller Online-Angebote die Postkarte geblieben. Mit verschiedenen Tricks (siehe Text rechts) und der notwendigen Akribie räumen sie Preise ab. Wer glaubt, bei derlei Wettbewerben könne man sowieso nie gewinnen, der irrt. Im Gegenteil: Die Chancen sind weit größer als bei anderen Glücksspielen.

Weil Anne Bertram für ihr einträgliches Hobby so wenig Geld wie möglich ausgeben möchte, besucht sie schnell noch die Filiale einer Modekette. An der Kasse steht ein Ständer mit Werbepostkarten. Gratis. "Kann man immer mal für Einsendungen brauchen", sagt sie. Weiter geht's in die Buchhandlung. Nächste Chance: Hauptgewinn ist das Angebot, in 30 Minuten so viele Bücher mit nach Hause zu nehmen, wie eine Person allein tragen kann.

Auch das Fischrestaurant, in dem Anne Bertram eine Pause einlegt, hat mit Gewinnspielen zu tun. "Lange nicht gesehen", grüßt die Verkäuferin. Kein Wunder. Anne Bertram hatte hier mal bei einem Preisausschreiben "ein Jahr lang umsonst Mittagessen mit der ganzen Familie" gewonnen. Auf der Theke liegen schon wieder Karten für ein neues Gewinnspiel.

Zu Hause stellt sie das Auto auf dem Parkplatz ab. Es klingt wie im Märchen: "Den haben wir uns pflastern lassen von dem Geld, das wir für einen gewonnenen Motorroller bekommen haben." Drinnen läuft das Radio - ein Sender könnte ja seinen Gewinnslogan abfragen. Und auf dem Tisch liegt das neue Heft von "Vera's Glücksratgeber", einer Zeitschrift mit monatlich rund 50 Preisausschreiben. Am interessantesten sind Geldpreise, Autos und Reisen.

Als Anne Bertram mit den Gewinnspielen begonnen hat, war sie gerade im Babyurlaub und hatte Langeweile. Ihren Mann, einen IT-Manager, musste sie erst überzeugen. Das sei doch alles ein Fake, völliger Quatsch, hier könnte man nie gewinnen, das Geld sollte man sich lieber sparen. Als seine Frau dann nach ein paar Wochen gleich eine vierwöchige Australienreise gewann, war er überzeugt: "Dann mach mal weiter."

Auch andere Gewinnspielprofis haben ihre Tricks. Legendär war der Berliner Ulrich Milatz, der in seiner "Karriere" gleich fünf Autos gewonnen hatte. Er behauptete, dass sogenannte Kreativwettbewerbe die besten Chancen bieten. Für Fotowettbewerbe zum Beispiel haben die routiniertesten Mitspieler ein umfangreiches Archiv angelegt, in dem für alle Fälle (Jahreszeiten, Landschaften, Sport, Freizeit) die passenden Fotos liegen, im Original oder als Zeitungsausschnitt und Ideengeber.

Der unbefangene Gewinnspiel-Laie wirft die meisten Angebote ungelesen in den Papierkorb. Bei 500 000 Flyern, denkt er, dürften zur Ziehung bestimmt ein paar Tausend Einsendungen auf dem Tisch liegen. Ein Fehler. Denn regelmäßige Teilnehmer wissen es besser. Tatsächlich wagt nur eine kleine Zahl überhaupt die Teilnahme, in einem Fall waren es gerade mal 60. Das bedeutet: wenn 20 Preise ausgesetzt sind, liegt die Wahrscheinlichkeit für einen Gewinn schon bei 1:3 - wenn man nur eine Karte einschickt. Die erfahrenen Mitspieler erhöhen ihre Chance, indem sie vier oder mehr Einsendungen auf den Weg bringen.

Genau deshalb sitzt Gertrud Seibel aus Kötterichen in Rheinland-Pfalz mit ihren sechs Kindern fast täglich gemeinsam am Tisch und bastelt Karten. Alle Kinder im Alter zwischen drei und zwölf Jahren tragen auf unterschiedliche Weise zur Gestaltung der Karten bei. Während Swantje (11) sie mit kleinen Bildchen bemalt, klebt Thiemo (6) kleine Sticker auf. Jannik (8) hantiert mit der Zackenschere, um den Karten eine auffälligere Griffigkeit zu geben. Und Niels-Erich (12) schreibt Adressen in allen Variationen: mal als Niels, mal als Erich, mal als Niels-Erich.

Wenn die Spielregeln die Zahl der Einsendungen pro Person nicht einschränken, erhöht jede zusätzliche Karte die Gewinnchancen dramatisch. Gertrud Seibel, von Beruf ursprünglich Designerin, kommt so mit ihren Kindern und Ehemann Jörn, beruflich Polizeikommissar, auf mindestens zwölf Einsendemöglichkeiten. Zumindest bei einem Gewinn, den sie wirklich haben will. Und tatsächlich haben die Seibels schon so einiges gewonnen. Vor allem Reisen sind begehrt, denn wie will sich eine Polizisten-Familie mit sechs Kindern größere Ausflüge und Urlaubsreisen leisten?

Währenddessen hat sich Ingrid Blanke, eine 67-jährige pensionierte Postangestellte aus Emden, auf das Aufkleben von ausgeschnittenen Zeitungsfotos auf Pappkarten spezialisiert. Sie hat die Karten vorher in großer Anzahl zuschneiden lassen - im Format etwas größer als normale DIN-A6-Karten. Wenn sie dann ein Auto gewinnen will oder ein Haus, sucht sie sich das passende Motiv aus einem nach Stichworten geordneten Kasten heraus, schreibt das Lösungswort sauber ab und trägt danach noch ihre Einsendung in ihren eigenen Ordner ein. Man muss ja die Übersicht behalten. Schon mehr als 5000-mal hat sie eine Karte mit ihrem Namen abgeschickt und tatsächlich schon einmal ein Haus im Wert von 155 000 Euro gewonnen, dazu einen Einrichtungsgutschein über 10 000 Euro. Ihre Tochter Rita, die ebenfalls mit dem Gewinnspielvirus infiziert ist und jedes Jahr mehrmals mit Muttern auf gewonnene Reisen geht, freut sich nun über das Fertighaus, hat es in der Nähe von Frankfurt aufgebaut.

Natürlich hat die Gewinnspielmanie auch eine Kehrseite. Nicht unbedingt, weil es auch in dieser Branche unseriöse Veranstalter gibt, die schöne Hauptpreise vorgaukeln und tatsächlich nur überteuerten Plunder verhökern wollen. Aber das Interesse aller Gewinnspielveranstalter ist klar: Sie wollen Werbung machen und Adressen sammeln, um sie zu speichern und möglicherweise auch mit ihnen zu handeln.

Als unvermeidliche Folge quillt bei allen Gewinnspiel-Routiniers durch das ständige Eintrudeln von Werbeangeboten und anderem postalischem Müll der Briefkasten über. Doch das wird in der Szene als unvermeidlicher Nebeneffekt angesehen, als Geben und Nehmen.

"Und manchmal", sagt Anne Bertram, "ist da ja auch wieder ein neues Gewinnspiel dabei."

Eine Reportage "Die Abräumer - mit Tricks zum Glück" von Tilo Knops und Kirsten Waschkau ist am Sonntag, 5. Juli, um 13.15 Uhr in der ARD zu sehen.