Von Hinterriß über das Karwendel-Gebirge, die Zentralalpen und die Dolomiten bis nach Belluno in Venetien - Abendblatt-Reporterin Bettina Brinker hat sich das Abenteuer zugetraut. Rund 290 Kilometer haben sie und ihr Weggefährte zurückgelegt. Über Geröllhänge, Klettersteige und Almen bis in eine Höhe von 3152 Metern. Ihr Fazit: Nicht nur die Natur, auch das Gefühl, es geschafft zu haben, ist unbeschreiblich.

Kehrt um!" Der Wanderer hebt seinen Zeigefinger. "Kehrt um! Das Madel hat keine Kondition. Das habe ich sofort gesehen." Er meint es ernst. "Mein Kumpel wollte heute mit zur Birkkarspitze. Der hat gleich aufgegeben, als er sie so hilflos in den Seilen hat hängen sehen." Der Wanderer zeigt mit dem Finger auf mich. "Kehrt um!"

Tag 2: Ich denke ans Aufgeben

Es ist der zweite Tag auf unserem Weg zu Fuß über die Alpen nach Italien - die längste Etappe. Sie führt vorbei am höchsten Gipfel des Karwendel-Gebirges, der Birkkarspitze (2756 Meter). Rund 1500 Meter Aufstieg und 1500 Meter Abstieg an einem Tag. Vier Stunden sind wir schon unterwegs. Die Birkkarspitze liegt noch vor uns. Mache ich auf dem steilen Geröllhang einen Schritt nach vorn, rutsche ich wieder zwei zurück. Wir sind mindestens zwei Stunden im Rückstand.

Was ist, wenn es dunkel wird und wir noch nicht am Ziel sind? Ich denke daran aufzugeben - und gehe weiter. Einen Schritt vor, zwei zurück. Tränen in den Augen. Wenn wir jetzt umkehren, dann können wir unseren Zeitplan nicht einhalten. Dann ist die Alpenüberquerung geplatzt - 18 Tage, von Nord nach Süd, vom Karwendel-Gebirge über die Zentralalpen und die Dolomiten nach Belluno (Venetien), Luftlinie München/Venedig, rund 290 Kilometer.

Irgendwann sind wir oben. Der Blick: gigantisch. Richtung Süden sind schon die Gipfel der Tuxer und der Zillertaler Alpen zu sehen. Nach einer Brotzeit auf luftiger Höhe geht es weiter. Bergab. Wir hangeln uns an Stahlseilen hinunter. Das fordert viel Konzentration, aber es geht. Viel schlimmer das danach: ein endloses Geröllfeld. Ich rutsche. Falle hin. Beiße die Zähne zusammen. Steige wie auf rohen Eiern weiter hinab.

Tag 3: Mein Körper ist ein einziger Muskelkater

In meinen Knien macht sich ein stechender Schmerz bemerkbar. Mein Körper ist ein einziger Muskelkater. Im Hallangerhaus (1768 Meter) kann ich kaum die Treppen hinunterkommen. Pferdesalbe und Magnesium, rät ein älterer Herr beim Frühstück. Er ist Koch und mit seinem Freund ebenfalls bis nach Belluno unterwegs. Ich habe weder Pferdesalbe noch Magnesium. Zum Glück soll die heutige Etappe nach Hall, auf der wir schon wieder Abschied vom Karwendel-Gebirge nehmen müssen, einfach sein. Doch das ist in unserem Zustand relativ.

Als wir aufbrechen, treffen wir Basti. Er hat gerade sein Maschinenbau-Studium abgeschlossen und ist auf derselben Route wie wir. In sieben Stunden hat er gestern die Etappe vom Karwendelhaus zum Hallangerhaus zurückgelegt. Er staunt, dass wir dreizehn Stunden gebraucht haben. Man müsse, sagt er, einen steilen Geröllhang wie im tiefen Schnee hinabsteigen, mit den Fersen zuerst.

Am späten Nachmittag erreichen wir Hall. Ich denke nur noch an die Badewanne und ein weiches Bett. Zuerst allerdings gehen wir zur Post. Der Postbeamte wundert sich, dass wir keine Briefmarken kaufen, sondern die größten Postpakete, die er hat. Nach den ersten drei Wandertagen ist uns klar geworden: Wenn wir den Weg über die Alpen ohne Selbstkasteiung schaffen wollen, müssen wir auf ein paar Dinge verzichten. Also schicken wir Turnschuhe, Jogging-Anzug, Klettersteig-Ausrüstung nach Hause. Insgesamt rund 5 Kilo, sagt die Paketwaage beim Postamt.

Nächste Station ist der Apotheker. Er kann sich das Grinsen kaum verkneifen. Wir sind nicht die Ersten, die heute humpelnd vor ihm stehen. Der Koch und sein Freund waren vor uns da. Wir kaufen Magnesium. Pferdesalbe hat er nicht.

Tag 4: Die Schuhe drücken, die Füße brennen

Der Muskelkater ist trotz Magnesium schlimmer geworden. Den Knien geht es zum Glück besser. Wir stehen vor sieben Uhr auf. Die Sonne scheint. Wir lassen das Inntal hinter uns und legen die ersten Höhenmeter auf unserem Weg über die Zentralalpen gemütlich sitzend zurück: Um die 28 Kilometer und gut 1500 Höhenmeter zur Lizumer Hütte überhaupt bewältigen zu können, müssen wir heute ein Stück Seilbahn fahren. Atemberaubend: der Rückblick aufs Karwendel mit seinen endlosen Zacken, Graten und Türmen. Dieses Gebirge haben wir in den vergangenen drei Tagen überschritten? Ich bin glücklich. Und, zugegeben, auch ein klein wenig stolz.

Nach der kargen Geröll- und Kalksteinlandschaft des Karwendels erwartet uns in den Zentralalpen eine Vegetation wie im Bilderbuch. Den schmalen Weg säumen Alpenrosen und Blaubeersträucher. Zu meiner Linken geht es 100 Meter in die Tiefe.

Manchmal ist der Pfad nur einen Fuß breit, dann drücke ich mich rechts an die Felsen. Nach mehr als vier Stunden erreichen wir die Ruinen einer Almhütte. Wir packen die letzten Müsliriegel aus Hamburg aus und legen uns in das samtweiche Gras. Ich ziehe meine Schuhe und meine Strümpfe aus. Ein großer Fehler, wie ich später bemerke. Als wir aufbrechen, drücken die Schuhe, meine Füße brennen. Unsere letzte Hürde heute: das Naviser Jöchl (2479 Meter). Dahinter: der Tuxer-Hauptkamm - da wollen wir morgen rüber - und der Hintertuxer Gletscher.

Tag 5: Der Berg schenkt einem nichts

Geht der Muskelkater überhaupt noch weg? Ich bin mir nicht mehr sicher. Bei jedem Aufstieg kämpfe ich - und heute sind es immerhin drei. Der erste ist der Schlimmste. Mehr als siebenhundert Höhenmeter von der Lizumer Hütte zum Pluderling-Sattel (2743 Meter). Ich denke an gar nichts mehr. Sehe nur noch den Weg vor mir. Zähle meine Schritte. Hundert am Stück, als Belohnung eine kurze Pause und so weiter. "Jaja, der Berg schenkt einem nichts", sagt ein Wanderer, als er mich überholt. Er bietet mir eine Salami an. Wir übernachten im Tuxer-Joch-Haus - mit Blick auf den Hintertuxer Gletscher.

Tag 6: Jetzt gibt es nur noch den Berg und mich

Heute werden wir den zweithöchsten Punkt auf unserer Alpenüberquerung erklimmen: die Friesenbergscharte (2910 Meter). Wir passieren den schmalen Spalt und sehen vor uns die Gipfel des Zillertaler Hauptkamms. Ein bröckliger Steig, der mit Stahlseilen gesichert ist, führt steil in die Tiefe. Für meinen Geschmack viel zu steil und viel zu tief. Meine Hände sind schweißnass. Einige Eisenstifte im Fels sind rostig. Ich frage mich, wie oft die Klettersteige gewartet werden. Mein Kopf ist leer. Jetzt gibt es nur noch den Berg und mich. Ich vertraue mich den Stahlseilen an.

Tag 7: Keine Sicht - Italien versinkt im Nebel

Am nächsten Morgen erwachen wir über den Wolken. Das urgemütliche Friesenberghaus (2477 Meter) ist wie in weiche Watte gepackt. Ich fühle mich so frei wie nie. Heute ist ein besonderer Tag: Wir werden die Grenze nach Italien überschreiten. Den Grenzstein auf dem Pfitscher Joch (2246 Meter) finden wir nur mit Mühe. Wir stochern im Nebel herum.

Tag 9: Herzklopfen - erster Blick auf die Dolomiten

Die Angst läuft mit. Ein Gewitter ist uns auf den Fersen. Während unseres gut dreieinhalbstündigen Aufstiegs durch den Rodenecker Wald hinter Pfunders. Wir haben Glück. Erst als wir auf 1832 Meter Höhe die Ronerhütte erreichen, holt uns das Gewitter ein. Kirschgroße Hagelkörner färben die Berglandschaft weiß. Plötzlich am Horizont: der Peitlerkofel (2875 Meter), der erste Blick auf die Dolomiten. Dort müssen wir morgen rüber. Herzklopfen.

Tag 11: Mein Kopf ist frei wie nie, ich vermisse nichts

Der Muskelkater ist längst weg. Die tägliche Anstrengung, der Schweiß, das Drücken des Rucksacks, das zähe Vorankämpfen hoch zu Jöchern, Scharten und Gipfeln ist jetzt fast so normal wie Zähneputzen. Viele Stunden gehen wir jetzt oftmals schweigsam hintereinander her. Der Kopf ist frei wie nie. Ich vermisse nichts. Ich gehe einfach. Immer weiter. Das Wandern hat einen kontemplativen Charakter bekommen. Der Koch und sein Freund haben einen Ruhetag eingelegt. Auch wenn wir nie gemeinsam gewandert sind, sie fehlen uns.

Tag 12: Piz Boè - mein erster Dreitausender

3152 Meter und kein bisschen müde. Eigentlich wollten wir auf dem Piz Boè übernachten. Da aber erst der halbe Tag vorbei ist, steigen wir noch zum Passo Pordoi ab. Es macht Spaß, den Hang wie im tiefen Schnee hinunterzustapfen. Basti, von dem wir uns heute verabschiedet haben, hat recht gehabt! Wir sind jetzt einen Tag schneller als geplant.

Tag 15: Ich habe immer noch keine Blasen

Mist. Heute, beim Abstieg von Rifugio Tissi, ist es im Hochtal Val Civetta tatsächlich passiert. Ein Kuhfladen. Direkt unter meinem Schuh. Normalerweise lacht man darüber. Ich nicht. Die Wanderschuhe sind längst ein Teil von mir geworden. In gewisserweise bin ich ihnen sogar dankbar. Sie haben meine Füße durchweg gut behandelt. Keine Blasen. Im Unterschied zu meinem Weggefährten. Wir übernachten im Rifugio Carestiato (1834 Meter). Der Vollmond tüncht die Moizza-Gruppe der südlichen Dolomiten kalkweiß. Ich muss an den Prinzen aus einer ladinischen Sage denken. Er verliebte sich einst in die Tochter des Mondkönigs und nahm sie mit in seine Heimat. Damit sie kein Heimweh bekam, ließ er ein Netz aus Mondlicht knüpfen und legte es über die dunklen Berge. Seither, so heißt es, sind die Dolomiten hell gefärbt.

Tag 16: Ich traue meinen Augen nicht - Edelweiß

Noch drei Tage bis Belluno. Dass die Alpen auslaufen, kann man schon sehen. Ich mag gar nicht daran denken, dass wir bald da sind. Kleines Trostpflaster: Zwischen den Felsen, beim Abstieg von der Forcella la Sud dei Van di Città (2395 Meter), entdecke ich zwei Edelweiß. Ich lasse sie stehen.

Tag 17: Ein letzter Blick zurück

Heute hätten wir die Klettersteigausrüstung gebraucht. Für die Überschreitung des Schiara-Massivs. Wir umgehen diese letzte Gebirgsbarriere östlich auf einem Weg, den uns die Hüttenwirtin beschrieben hat. Rund 1800 Höhenmeter runter und 2000 wieder rauf. Von der Forcella Col Torond blicke ich noch ein letztes Mal zurück.

Tag 18: Die Zivilisation hat mich wieder

Das Ziel ist jetzt greifbar nah. Von 1502 Metern (Rifugio 7° Alpini) steigen wir auf 395 Meter nach Belluno ab. Nähern uns Schritt für Schritt der Zivilisation. Asphaltstraße, Autos, Abgase. Wir stecken die Wanderstöcke weg. Auf dem Piazza del Duomo in Belluno machen wir ein Erinnerungsfoto. Wir sind angekommen. Das Gefühl, es geschafft zu haben, ist unbeschreiblich. Es mischt sich mit Fernweh.