Die Tragödie der Schlittenhunde wirft ein Licht auf das Leben der Grönländer. Es ist bestimmt von Alkohol, Gewalt und sozialer Auflösung.

Kopenhagen/Grönland. Das Problem ist in Grönland seit Jahren bekannt. Aber als nun eine dänische Zeitung Fotos von verhungerten, geschlagenen und misshandelten Schlittenhunden zeigte und berichtete, dass bis zu 70 Prozent aller Schlittenhunde ein jämmerliches Dasein führen, schlug die Nachricht in Skandinavien wie eine Bombe ein. Tierschutzorganisationen in Norwegen und Dänemark forderten Touristen auf, Grönland zu meiden. Innerhalb weniger Tage erhielt die grönländische Regierung Berge von Protestbriefen. Die Reaktionen waren so heftig, dass sich die Regierung höchstpersönlich darum kümmern will. Der Abgeordnete Siverth Heilmann: "Das schadet dem Ruf Grönlands. Das sollte im modernen Grönland nicht passieren."

Schon mehrere Male hatten die Behörden etwas gegen die kollektive Hundemisshandlung unternehmen wollen. Aber irgendwie waren die Hunde dann doch immer wieder in Vergessenheit geraten. Fatal: Denn in den Problemen der Hunde spiegeln sich die Probleme der Kalaallit, der Einwohner Grönlands, wider. Viele von ihnen können kaum für sich selbst sorgen. Wie sollen sie da für vier, fünf oder noch mehr Hunde Verantwortung tragen?

Wie schwer sich die Grönländer damit tun, zeigt die Geschichte der Fischfabrik von Ilulissat. In Ilulissat leben 4300 Menschen, und bis vor Kurzem lebten dort auch 6000 Schlittenhunde. Ilulissat ist keine Kleinstadt, wie man sie in Mitteleuropa kennt. Die Häuser sind weit verstreut, und während in anderen Teilen der Welt die Familien ein Auto vor dem Haus stehen haben, leistet man sich Ilulissat ein Gespann Schlittenhunde. Bei Eis und Schnee sind sie immer noch das beste Fortbewegungsmittel.

Die Fabrik in Ilulissat hatte viele Jahre die Produktionsreste gratis für Schlittenhunde abgegeben. 2005 wurde genau dieser Teil der Fischindustrie geschlossen. Schon in den ersten Wochen nach der Schließung mussten die Tierärzte 1171 Schlittenhunde einschläfern. Insgesamt starben fast 1900 Tiere. Anthon Frederiksen, Bürgermeister von Ilulissat, teilte mit: "Die Besitzer haben selbst für die Einschläferung gesorgt. Sie wollten nicht, dass die Hunde hungern."

Einigen der betroffenen Grönländer war es einfach zu fremd, für Hundefutter, das die Natur immer übrig hatte, zu bezahlen. Anderen, die vielleicht bezahlt hätten, fehlte dagegen das Geld. Das Leben auf Grönland ist für viele nicht nur wegen des eisigen Wetters hart und mühsam.

Und diese Lebenskämpfe der Grönländer haben Ursachen, die weit zurückreichen. Dänen und Norweger hatten die größte Insel der Erde und ihr ewiges Eis erobert und erforscht, 1814 wurde Grönland dänische Kolonie. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschloss man die Entkolonialisierung, und am 5. Juni 1953 wurde die Insel eine eigenständige Provinz. 1979 bekam Grönland seine eigene Regierung, nur außenpolitisch wird die Insel immer noch von Dänemark vertreten.

Bis heute sind viele Grönländer mit der Art, wie die Entkolonialisierung abgewickelt wurde, unzufrieden. "Dänemark hat gelogen, manipuliert und geschwiegen, als wir Grönländer nichts ahnend das dänische Grundgesetz aufgezwungen bekamen", schimpfte Lars-Emil Johansen, der Grönland als Abgeordneter in Kopenhagen vertritt. Hans Enoksen, Grönlands Regierungschef, forderte eine unparteiische Untersuchung. Mitte Januar wurde der Bericht veröffentlicht. Fazit: Einiges hätte besser laufen können, aber alles in allem hat sich Dänemark ordentlich verhalten.

Vor allem aufgrund der Tatsache, dass die Grönländer nicht nur aus ideologischen Gründen selbstständig werden wollten. Die einstige Kolonie stärkt ihr Selbstbewusstsein mit den enormen Bodenschätzen. Es soll Diamanten geben und viel Öl. Die Regierung Grönlands verhandelt im Moment mit vier Öl-Multis. Im März sollen die ersten Verträge unterschrieben sein. Jörn Skov Nielsen, Leiter des Rohstoffdirektorats in der Hauptstadt Nuuk, voller Optimismus: "Die grönländischen Ölvorkommen können so groß wie die in der Nordsee sein." Für die ca. 56 000 Einwohner würde das fast unvorstellbaren Reichtum bedeuten.

Träume von einer goldenen Zukunft für Grönland sind kein unbekanntes Phänomen. Die gab es schon in den Fünfzigerjahren, als Dänemark viel Gutes tun wollte.

Und fast sah es so aus, als würde der Traum Wirklichkeit werden. Man baute Städte, Häuser, Fabriken, Schulen und Krankenhäuser. Die Kindersterblichkeit sank drastisch, die Lebensqualität stieg.

Erst zu spät merkte man, welchen Preis man bezahlt hatte. Die Kalaallit vergaßen ihre Traditionen und verloren ihre Wurzeln. Der Beruf des Jägers, das Herz der grönländischen Kultur, wurde in großen Teilen des Landes überflüssig. Kleine Fischerdörfer lösten sich auf, die Familien zogen in die neuen Städte.

In den Städten gab es zwar Wohnblocks und einen Supermarkt - aber auch Arbeitslosigkeit und Alkohol. Heute hat Grönland eine der höchsten Verbrechensraten der Welt. Vergewaltigungen sind auf Grönland 26-mal häufiger als in Dänemark, Tötungsdelikte kommen elfmal häufiger vor. Eine grönländische Kommission ist 2003 in einer Untersuchung zu dem Schluss gekommen, dass sowohl Alkohol als auch verdeckte psychische Krankheiten hinter diesen Horrorzahlen stecken. Erst in den letzten Jahren hat man begonnen, Alkoholiker zu beraten und Leuten mit psychischen Problemen zu helfen.

Die Politik und die Behörden tun sich jedoch schwer. Richtig glücklich mit sich, ihrem Leben und ihren Hunden wären die Grönländer vielleicht erst wieder, wenn sie zurückkehren würden zu ihrem einfachen Leben von einst. Ein historisches und politisches Unding, meinen viele. Deswegen sucht man verzweifelt nach Lösungen.

Wie verzweifelt man sucht, erfuhren grönländische Zeitungsleser im Februar. Tommy Marö, grönländischer Bildungsbeauftragter und Abgeordneter, flog mit einer Delegation nach Hawaii. Die Begründung: Hawaii und Grönland hätten einen ähnlichen kulturhistorischen Hintergrund. Es sei wichtig, Inspiration außerhalb Grönlands zu suchen. Neue Erkenntnisse oder Lösungen sind aber noch nicht bekannt.