Von der mannstollen Mutter verstoßen, von seiner warmherzigen Tante Mimi liebevoll aufgezogen: So lautet bis heute die offizielle Version über John Lennons Kindheit. Ein Buch, das im Februar in England erscheint, zeichnet ein gänzlich anderes Bild. Geschrieben hat es Lennons jüngere Halbschwester.

London. England im Zweiten Weltkrieg. Der Vater des kleinen John ist auf See, seine Mutter Julia lässt sich auf eine Affäre mit einem Offizier ein. Das bleibt nicht ohne Folgen - 1945 bringt sie Tochter Victoria zur Welt. In der damaligen Zeit ein ungeheuerlicher Skandal. Die Familie zwingt sie dazu, das Kind zur Adoption freizugeben.

Und jetzt tritt ihre ältere Schwester auf den Plan, John Lennons Tante Mimi, nach außen puritanisch, in Wirklichkeit bigott: Auch sie, verheiratet, hat ein heimliches Verhältnis, noch dazu mit einem Mann, der 24 Jahre jünger ist als sie. Aber das weiß niemand. Und jetzt hat sie endlich Gelegenheit, sich an der jüngeren Julia zu rächen für die Demütigungen der Kindheit, dafür, dass Julia stets der Liebling ihres Vaters war.

Sie entreißt den damals fünf Jahre alten John förmlich dem Elternhaus und nimmt ihn zu sich. Sein Elternhaus nennt sie fortan "Haus der Sünde" und lehrt John, die Mutter zu verachten. Ihr Heim, in dem sie ihren Ehemann mit ihrem jüngeren Untermieter betrügt, nennt sie hingegen "Haus der Besserung".

Zuerst besuchte er seine Mutter nur heimlich nach der Schule

So schildert es Johns jüngere Halbschwester Julia Baird in ihrem Buch\*), das am 8. Februar erscheint. Baird, ehemalige Lehrerin und Erziehungs-Psychologin, deren Verhältnis zum Bruder keineswegs immer ungetrübt war, beschreibt auch, wie Tante Mimi Johns Mutter wiederholt die Haustür vor der Nase zuschlug, wenn sie versuchte, ihn zu besuchen.

Erst als John etwa elf Jahre alt war, nabelte er sich von seiner übermächtigen Tante ab. Er besuchte seine inzwischen vom Vater geschiedene Mutter, die nur eine Busstation entfernt wohnte, wenn er aus der Schule nach Hause kam. Heimlich zunächst, später duldete Mimi diese Kontakte, wohl zähneknirschend.

Die musisch sehr begabte Mutter lehrte John zeichnen und malen, sie führte ihn an die Musik heran: Erst kaufte sie ihm eine Ukulele, später dann die erste Gitarre. Sie begleitete ihn auch zu den ersten Auftritten auf den Ladeflächen von Lastwagen.

John liebte sie - und fühlte sich doch hin- und hergerissen zwischen ihr und seiner Tante Mimi. Als Julia 1958, John war 17, bei einem Autounfall ums Leben kam, brach seine Welt zusammen. Die Suche nach der Liebe seiner Mutter ließ ihn ein Leben lang nicht mehr los. Nach ihr nannte er seinen Sohn aus erste Ehe Julian, ihr widmete er einen Song, den er zunächst ganz allein ohne die anderen Beatles spielte - "Julia".

Auf der Suche nach Mutters Liebe - so ist vielleicht auch die vielen seltsam anmutende Ehe mit der sieben Jahre älteren, beschützenden Yoko Ono zu erklären. Mit ihr ließ er sich für ein 1981 erschienenes "Rolling Stone"-Cover fotografieren . Nackt, an sie geschmiegt in Embryonal-Haltung. Er nannte Yoko "Mother".

\*) "Imagine This: Growing Up With My Brother John Lennon", Hodder, 18.99 Pfund.