ICE Hamburg-Berlin. Da ist diese junge Frau. Dann passiert etwas Seltsames. Eine Geschichte aus dem Zug.

Wie sie ihn küsst. Die schmale Lippe stupst das Ohr, gleitet zum Hals ab. Dann drücken die Füße den kleinen Körper nach oben, zum Mund. Der rechte Arm zieht den Kopf herunter, die Fingerspitzen der linken Hand streicheln den Pullover über den Bauchnabel hinweg. Die Augen. Sind zu.

Sie sieht ihn nicht. Den letzten freien Platz. Dabei steht, küsst sie direkt davor. 40 mal 50 Zentimeter, hochgeklappter, blauer Stoff. Den Koffer vorbei, dann die linke Schulter, eine leichte Berührung, "Tschuldigung". Sie merkt es nicht einmal. Der Sitz ist unten. Die Türen schließen. Eine Stunde und 36 Minuten bis Berlin.

Ihr Kopf passt genau unter sein Kinn

Ich sitze. Vor mir steht ein Mann mit Bleistift und Klemmbrett. "Die Deutsche Bahn führt eine Kundenbefragung durch. Dürfte ich Sie etwas fragen? Sind Sie am Hauptbahnhof um- oder zugestiegen?" Der letzte Platz liegt direkt vor der Toilette. "Zugestiegen." "Sind Sie in den vergangenen zwei Jahren mit einem Fernzug zu einem Flughafen gefahren?" An der Tür zur Toilette lehnt ihr Freund, an ihrem Freund lehnt sie. "Einmal." Sie sieht ihn an wie eine, die ihren Verlobten zum Zug bringen wollte und vergessen hat, rechtzeitig auszusteigen. "In Ordnung." Wie alt mag sie sein? Vielleicht 16, 17, 18. Er: 19, 20. Wie klein sie ist, 1,60 Meter, ihr Kopf passt genau unter sein Kinn.

Die Toilette ist frei. Zum ersten Mal seit der Abfahrt. Vorsichtig drückt sie sich von seinem Oberkörper ab, das Handy in der rechten Hand. Sechs Schritte, dann ist sie drin. Klack, aus Grün wird Rot. Er telefoniert schon.

Es ist 9.24 Uhr. Ich muss mit dem Buch anfangen. "Woraus wir gemacht sind" von Thomas Hettche. Für den Deutschen Buchpreis nominiert, erfindet er gleich im dritten Satz ein neues Wort: jetlagmüde. Am Ende des zweiten Kapitels ("Seine Hand strich über ihr Kissen, bis nichts mehr darin war vom Abdruck ihres Gesichts"), ist sie immer noch drin. Ich sehe hoch, weil ich an die beiden denken muss. Dass sie die Helden des Romans sein könnten. Dass gleich etwas passiert, vielleicht schon passiert ist. Dass etwas nicht stimmt. Bahnsinn.

Sie ist so lange drin. Zu lange. Wie machen Frauen das? Ob sie die Brille mit Klopapier ausgelegt hat, Stück für Stück?

Vielleicht findet sie bloß den Papierkorb nicht

Man kann die Spülung hören auf dem letzten Platz. Wenn sie gedrückt wird, verschwindet alles aus dem Zug an den Zug. Doch die Spülung geht nicht. Seit zehn Minuten hat die Tür sich nicht geöffnet. Vielleicht findet sie bloß den Papierkorb nicht, den die Bahn unter dem Spiegel versteckt hat.

Ihr Freund sieht nicht besorgt aus. Er simst, guckt links in den Gang, guckt rechts in den Gang, guckt nicht aufs Klo. Bei Hettche ist die Frau weg. Im ICE auch.

15 Minuten. Eine Viertelstunde auf, ja auf wie viel Quadratmetern? Zwei, drei, unwahrscheinlich vier. Links die silberne Schüssel, rechts das Waschbecken, dazwischen gerade genug Platz um aufzustehen. Oder um hinzufallen. Kreislaufzusammenbruch.

Hinter der zwei Schritt entfernten Tür liegt sie, den Kopf am Griff aufgeschlagen, bewusstlos. Der Schaffner hat einen Vierkantschlüssel, mit dem sich die Toilette öffnen lässt. Soll ich ihn rufen?

Eine neue SMS, aber keine Spülung

Warum nimmt man ein Handy mit auf die Toilette, wenn der Freund draußen steht, das Umhängetäschlein und einen Rucksack zwischen die Beine gedrückt, die Augen auf dem Display seines Nokia? Dieses alte Modell, das nicht mehr hergestellt wird. Bis zu 250 Euro gibt es dafür bei Ebay. Es piept. Eine neue SMS. Aber keine Spülung.

Der Zug fährt 212 km/h. Ankunftszeit: 10:41 Uhr. Aktuelle Zeit: 9:52 Uhr. "Niklas Kalf konnte sich nur schlecht konzentrieren. Mehrmals, wenn er klackende Schritte auf dem Marmor kommen hörte, und die Tür dann vorsichtig geöffnet wurde, verlor er die Zeile... verlor er die Zeile..." Es ist schwer sich zu konzentrieren, wenn eine junge Frau eine halbe Stunde auf der Toilette sitzt/steht/liegt.

Niemand scheint es zu bemerken, auch der Mann nicht, der, ein Bein nachziehend, gekommen ist, um warten zu müssen. Vielleicht klopft er bald. Drei, vier Minuten, länger wird er es nicht aushalten können.

Er wartet. 9.56, 9.57, 9.58, 9.59 Uhr. Es muss etwas passiert sein. Wo ist der Zugbegleiter? Ich lege den Hettche auf den Sitz. Ab in den nächsten Wagen, zweite Klasse, dann das Bordrestaurant. Eine blaue Uniform mit roten Streifen am Handgelenk - und wenn sie gerade jetzt raus ist? Zurück. Der Humpelnde wartet, der Freund hat, endlich, aufgehört zu telefonieren. Die Toilettentür ist zu. "Wie lange braucht die denn noch?", murmelt der Alte. Klopf doch! Tu doch was!

Aus Rot wird Grün, die Tür geht auf

"Die Fahrtkarten bitte." Endlich, der Kontrolleur. 10:01 Uhr. "Die Fahrkarten bitte." Er schreit es zweimal in den Raum. Sie muss es hören. Er könnte helfen. Der Retter mit dem Vierkantschlüssel. Jetzt: "Entschuldigen Sie, da ist eine junge Dame..." Es rauscht. Die Spülung. Sie geht. "Was wollten Sie sagen?" Der Schaffner, genervt. "Da ist eine junge Frau..." Noch mal die Spülung. "...schon gut." "Kann ich bitte Ihre BahnCard sehen?" Sagt er und verschwindet im nächsten Abteil. Aus Rot wird Grün, die Tür geht auf. Sie kommt. Nach mehr als einer halben Stunde. Alles in Ordnung?

Ernst wirkt sie, aber ruhig. Sieht nur seine Augen. Der Arm des Freundes wartet. Sie streift ihn, haucht etwas, lässt ihn nicht mehr los. Bis Berlin. Ohne Worte.

Und ohne Fahrkarte.