Prozeß: Weil er den entführten Jakob von Metzler noch lebend zu finden hoffte, ließ ein Vize-Polizeipräsident den Täter unter Druck setzen. Illegal - aber auch verwerflich? Ab heute steht der Beamte vor Gericht.

Frankfurt. Am dritten Prozeßtag werden sie sich erstmals gegenüberstehen: Jakobs Mörder und der Mann, der ihn in die Knie gezwungen hat. Der dafür gesorgt hat, daß Magnus Gäfgen am Morgen des 1. Oktober 2002, einem Dienstag, endlich mit der Lügerei aufhörte und den Vernehmungsbeamten verriet, wo sie Jakob finden würden. Eingeschnürt in blaue Müllsäcke, unter einem Bootssteg an einem See, 35 Kilometer von Frankfurt am Main entfernt. Als sie Jakob auspackten, war er tot. Wie sich bei der Obduktion herausstellte, war er bereits am Freitag gestorben, vier Tage bevor die Polizei seinen Mörder festnahm.

Als Frankfurts stellvertretender Polizeipräsident Wolfgang Daschner einen Kriminalhauptkommissar anwies, Magnus Gäfgen mit Gewalt zu drohen, ging er davon aus, daß der elfjährige Jakob noch leben könnte. "Wenn Sie nicht sagen, wo das Kind ist", sollte der Hauptkommissar Gäfgen mitteilen, "werden wir gegen Sie Gewalt anwenden müssen, werden wir Ihnen Schmerzen zufügen müssen." Daran, daß Gäfgen der Entführer Jakobs war, gab es zu diesem Zeitpunkt keinen vernünftigen Zweifel mehr: Die Polizei hatte den Jurastudenten seit der Übergabe des Lösegelds observiert. Die Drohung reichte. Gäfgen brach zusammen und wies den Beamten mit den Worten, das Kind "könnte tot sein", den Weg zu Jakobs Leiche.

Jakobs Mörder wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Da das Gericht auf eine "besondere Schwere der Schuld" erkannte, muß Gäfgen über 2018 hinaus im Gefängnis sitzen.

Nun wird auch Wolfgang Daschner der Prozeß gemacht. Von heute an muß sich der 61jährige vor der 27. Großen Strafkammer des Frankfurter Landgerichts verantworten. Er ist wegen Anstiftung zu schwerer Nötigung angeklagt. Ihm drohen sechs Monate bis fünf Jahre Haft.

Wolfgang Daschner streitet den Tatbestand gar nicht ab. Im Gegenteil. Penibel wie er ist, hat er an jenem 1. Oktober in einer Aktennotiz vermerkt, was er angeordnet hatte. Nämlich: Gäfgen, falls verbale Drohungen nichts nützten, notfalls "durch Zufügung von Schmerzen (keine Verletzungen) erneut zu befragen".

Auf Grund dieses Vermerks in der Handakte, die Daschner Oberstaatsanwalt Rainer Schilling am nächsten Tag übergab, hat die Staatsanwaltschaft am 27. Januar 2003 Ermittlungen gegen Daschner und den inzwischen mitangeklagten Polizeihauptkommissar eingeleitet. Am 17. Februar sind die Vorwürfe gegen Wolfgang Daschner dann öffentlich bekanntgeworden. Das war der Tag, an dem in Deutschland eine Lawine der widerstreitenden Gefühle losbrach.

Die einen feierten Daschner als Helden, andere nannten ihn einen Folterknecht. Das eine schien auf den Mann mit dem akkuraten Schnauzbart und den schweren Augensäcken so wenig zu passen wie das andere. Bis zu jenem 1. Oktober 2002 hatte er sich niemals etwas zuschulden kommen lassen. "Typ preußischer Beamter" sei er, sagten die Kollegen, und das klang nach Prinzipienreiterei. Andere bescheinigten Daschner Geradlinigkeit und Mut. Das paßte schon eher zu den Ereignissen.

"Wir hatten", erklärte Daschner zu seiner Rechtfertigung, "in der Nacht nach Gäfgens Festnahme alles versucht. Wir appellierten an sein Gewissen, das Kind nicht sterben zu lassen. Er war völlig unbeeindruckt." In dieser Ausnahmesituation sei das, was er getan habe - Daschner hatte an jenem Morgen bereits einen Kampfsportler in die Abteilung 12 des Frankfurter Polizeipräsidiums beordert, der Gäfgen "einen relativ geringen Schmerz für eine bestimmte Dauer" hätte zufügen sollen -, eine polizeiliche Maßnahme zur Gefahrenabwehr gewesen. Daschner trotzig: "Ich würde wieder so handeln."

Rückendeckung bekam er von seinem unmittelbaren Vorgesetzten, Frankfurts Polizeipräsident Harald Weiss-Bollandt. Der erklärte, Daschner habe ein Menschenleben retten wollen, und das stehe für die Polizei an erster Stelle. Weshalb er Daschners Verhalten "in vollem Umfang" billige. Die Gefühle gingen so hoch, daß sich Hessens Ministerpräsident Roland Koch zu der Bemerkung hinreißen ließ, er halte Daschners Verhalten "für menschlich sehr verständlich". Oskar Lafontaine ging noch weiter. Zwar sei Folter gesetzlich verboten, meinte der Saarländer in einer Talkshow, aber es gebe eben "Situationen im Leben, wo der Verweis auf Gesetze oder das Verharren auf Prinzipien" nicht weiterhelfe: "Ich würde es als Katastrophe für den Rechtsstaat ansehen, wenn dieser Beamte bestraft würde, denn nach meiner Auffassung hat er nach den elementarsten sittlichen Geboten unseres Rechtsstaats gehandelt."

Das war genau das, was die Mehrheit der Bevölkerung auch dachte. Laut "Stern"-Umfrage zeigten sich zwei Drittel mit Daschners Handlung einverstanden. In der Flut von Zeitungsleserbriefen, in denen Juristen ("Grauzone!"), Menschenrechtsorganisationen ("Dammbruch!") und Politiker sämtlicher Parteien den Fall hitzig diskutierten, war vor allem von "Zivilcourage" die Rede und davon, daß Daschner sich in einer Ausnahmesituation nicht hinter dem Gesetz verschanzt, sondern als "Mensch" erwiesen habe.

Daschner, der nach der Anklageerhebung nicht suspendiert, sondern nur ins Landespolizeipräsidium Wiesbaden versetzt worden ist, droht im Fall einer Verurteilung der Verlust seiner Pensionsansprüche. Und daß er verurteilt werden muß, daran haben Organisationen wie amnesty international keinen Zweifel. "Wir hoffen", sagt ai-Sprecher Dawid Bartelt, "daß die Verhandlung deutlich macht, daß Folter absolut verboten bleiben muß, so wie es das Völkerrecht und das deutsche Grundgesetz vorsehen." Die Rechtslage sei klar: Der Staat dürfe unter gar keinen Umständen foltern.

Würde Bartelt anders reden, wenn Jakob gerettet worden wäre? Oder - zugegeben, das ist die populistische Variante - wenn es sein Sohn gewesen wäre? Und was würde er wohl sagen, wenn durch die Anwendung von Gewalt gegen einen einzigen Terroristen Tausende von Menschen gerettet werden könnten? Wenn die Rechtsordnung mit ihrer Alternative "rechtmäßig/ rechtswidrig" in größte moralische Schwierigkeiten gerät? Dann, sagt der Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann, liege der einzige Ausweg im "Rückzug des Rechts". In einem "rechtswertungsfreien Raum", der allerdings durch klare Regelungen "umhegt" werden müsse und in dem der Staat die Sache der Gewissensentscheidung der Beteiligten überlasse.

Dieser Ausweg ist bislang nicht vorgesehen. Aber während der Vize-Präsident des Bundesverfassungsgericht, Winfried Hassemer, den Standpunkt vertritt, daß das Folterverbot nicht gegen andere Rechtsgüter abgewogen werden könne, legt der Präsident des Bundesgerichtshofs die Bedeutung der individuellen Schuld in die Waagschale. Die "Süddeutsche Zeitung" zitierte Günter Hirsch mit dem erstaunlichen Satz: "Wenn ich (...) einen Polizeibeamten, der Folter angedroht oder gar praktiziert hat, freispreche, dann genehmige ich damit nicht die Folter."

Vielleicht ist das die Brücke, über die die Strafkammer gehen kann.