Die Autorin Julie Myerson hatte Angst, dass ihr Ältester die Familie in den “Abgrund reißen“ würde.

Hamburg/London. "Es kam der Punkt, an dem ich das Gefühl hatte, dass mein Sohn die gesamte Familie in den Abgrund zog, und ich hatte die Wahl: Entweder ich lasse alle abstürzen - oder ich kappe das Seil zu ihm. Und als der Moment kam, war ich überraschend erbarmungslos. Ich tat es einfach. Ich kappte das Seil." Die Art, wie die britische Bestsellerautorin Julie Myerson (48) mit einer schweren Krise in ihrer Familie umgegangen ist, hat eine heftige Debatte in Großbritannien ausgelöst. Zeitungen, Experten und Bürger diskutieren teilweise sehr emotional die Frage: Darf eine Mutter ihren drogensüchtigen Sohn aus ihrem Haus ausschließen, darf sie sein Schicksal in Zeitungskolumnen und Büchern vor einem Millionenpublikum ausbreiten?

Julie Myersons Familienleben mit Ehemann Jonathan und den Söhnen Jake, Raphael und der Tochter Chloe war harmonisch - bis vor drei Jahren der damals 17 Jahre alte Jake der Modedroge "Skunk", einer speziell gezüchteten, vielfach verstärkten Version von Haschisch, verfiel.

Jake vernachlässigt die Schule, kommt manchmal nicht nach Hause, stiehlt seiner Mutter Geld aus dem Portemonnaie, hat gewalttätige Anfälle, die dazu führen, dass Julie Myerson alle Küchenmesser wegschließt. Er prügelt auf seinen Vater ein, und in einer Auseinandersetzung schlägt Jake seiner Mutter so heftig ins Gesicht, dass ihr Trommelfell platzt. Die Eltern versuchen, mit dem Jungen zu reden, wenden sich an Experten. Jake wird häufig nicht mehr richtig wach, ist leichenblass, manchmal läuft eine grüne Flüssigkeit aus seinem Mund. Als die Familie in ein neues Haus umzieht, müssen die Möbelpacker Jakes Bett mit ihm darin abtransportieren - er weigert sich aufzustehen. Der Junge schwängert eine 16 Jahre alte Mitschülerin, und seine Mutter arrangiert eine Abtreibung.

Der Tag der bitteren Entscheidung kommt, als Julie sieht, wie Jake seinem damals 13 Jahre alten Bruder "Skunk" gibt und ihm zeigt, wie man es raucht. Julie und Jonathan stellen ihrem Sohn ein Ultimatum: Entweder er lässt sich helfen, oder er wird aus dem Haus ausgeschlossen. Und zwar im Wortsinne. Jake bleibt stur - und Julie lässt die Türschlösser auswechseln. Jake versucht, mit Gewalt einzudringen, wirft schwere Blumentöpfe gegen die Haustür, bis Julie die Polizei holt und ihren Sohn endgültig vertreiben lässt. "Mein Herz zerriss", beschreibt sie diesen Moment. Und sie beschreibt noch mehr, das ganze Drama nämlich, in einem jetzt in Großbritannien erschienenen Buch "The Lost Child" - das verlorene Kind.

Jake und seine Suchtfolgen werden darin gnadenlos offen porträtiert. Zudem veröffentlicht sie darin Gedichte, die Jake hin und wieder verfasst hat. Die britische Öffentlichkeit schäumt. Von literarischem Kannibalismus ist die Rede, "widerlich" nennt die Londoner "Times" das Familien-Outing. Myerson rechtfertigt sich in Talkshows.

Jake, heute 20 Jahre alt, nennt die öffentliche Abrechnung "obszön". Und Julie Myerson fragt sich selber: "Wo in mir habe ich das gefunden, dass mich meinem Sohn sagen ließ, er solle gehen? Es bringt mich dazu, sterben zu wollen." Doch der Rauswurf ihres Sohnes ist nur zum Teil schuld an dem Aufschrei der Öffentlichkeit.

Die Zeitung "The Guardian" hatte zwei Jahre lang eine viel gelesene Kolumne mit dem Namen "Leben mit Teenagern" gedruckt, in der eine Mutter ungeschminkt ihr Familienleben schilderte. Jake Myerson hatte seit Langem den Verdacht, dass seine Mutter die Autorin war und ein Pseudonym benutzte. Mitschüler legten ihm grinsend Artikel hin, in denen intime Details geschildert wurden, wie beim ältesten Sohn die ersten Schamhaare sprossen und Ähnliches. Julie Myerson wies diesen Verdacht stets entrüstet von sich. Nun, im Zuge des Buch-Skandals, gab sie die Autorschaft für mehr als 100 Episoden zu.

Bürger wie Medien geben Jake recht, wenn er sich von seiner Mutter verraten fühlt. "Du bist in Wahrheit die Süchtige", wirft Jake ihr vor. Myerson drückt derweil auf die Tränendrüse: In ihren Kopf sei nichts mehr außer dem schwarzen Loch, das den Verlust ihres Kindes darstelle.