Der Angeklagte muss nicht in die Psychiatrie. Der Familienvater könnte nach 15 Jahren wieder frei sein.

Gießen. Das Urteil im Mordfall Julia (8) ist gesprochen: Lebenslang für Thorsten V. (35)! Das Landgericht Gießen erkannte auf Mord in Tateinheit mit versuchter sexueller Nötigung. Allerdings verneinte die Kammer eine besondere Schwere der Schuld und ordnete keine Sicherheitsverwahrung in einer psychiatrischen Klinik an. Das heißt: Der Mörder könnte nach 15 Jahren Haft wieder frei sein. Dennoch wurde im Gerichtssaal applaudiert, als Richter Bruno Demel das Urteil verkündete. Julias Vater Jürgen Hose griff sofort zum Handy, um seine Frau zu informieren. Er ist trotz des Schuldspruchs verzweifelt. Für die Eltern des achtjährigen Mädchens aus Biebertal bleiben nach dem zähen Indizienprozess mehr Fragen als Antworten zurück. Der Angeklagte schwieg während des gesamten Prozesses. In einer von seinem Anwalt verlesenen Erklärung hatte er am ersten Verhandlungstag alle Vorwürfe bestritten. Julias Vater: "Nicht zu wissen was passiert ist, ist schier unerträglich." Das Nichtwissen treibe ihn "an den Rande des Wahnsinns. Der Täter sollte für immer weggeschlossen werden". Mit einem Puzzle verglich Richter Demel die mühsame Suche nach der Wahrheit in den zurückliegenden sechs Monaten: Weil der Angeklagte geschwiegen hatte, fehlten dem Gericht zwar am Ende einzelne Teile - doch die Richter waren sich sicher, dass sie das Bild des Verbrechens richtig zusammensetzen konnten: Es gebe keinen vernünftigen Zweifel daran, dass Thorsten V. Julia getötet habe, sagte Demel. "Fehlende Puzzle-Teile hindern einen nicht daran, das Bild zu erkennen." Fehlinterpretationen seien dennoch möglich. Doch bei einem Landschaftsbild mit einem durchgehend blauen Himmel sei es recht unwahrscheinlich, dass auf einem fehlenden Stück eine Wolke sei. "Es kann, wenn man die Umstände sieht, nicht zweifelhaft sein, dass der Angeklagte die Tat begangen hat." Nach Überzeugung des Gerichts lockte der 35-jährige Familienvater die kleine Julia am 29. Juni 2001 in den Keller seiner Wohnung: Spätestens dort entschloss er sich, sie sexuell zu missbrauchen. Ob es dazu kam, konnte nicht geklärt werden. An der Leiche des Kindes fanden die Ermittler später Handschellen, mit denen Thorsten V. das Mädchen nach Ansicht der Richter fesselte. Mit zwei «wuchtigen Schlägen auf den Kopf habe er sie getötet. Vier Tage später habe er die Leiche des Kindes verbrannt. Für die Schuld des Angeklagten gibt es laut Gericht klare Indizien wie DNA-Spuren Julias in einem Teppich aus der Wohnung der Familie V. Zudem wurden in der Nähe des Leichenfundorts eine Wasserpistole Julias sowie ein Latexhandschuh gefunden, der dem Angeklagten ebenfalls mit Hilfe einer Gen-Analyse zugeordnet werden konnte. Hinsichtlich des versuchten sexuellen Missbrauchs stützte sich das Gericht vor allem auf die Persönlichkeit des Angeklagten und auf den Fund zahlreicher Pornofilme. Der Richter beschrieb Thorsten V. als «in hohem Maße sexualisiert. Das verbindende Puzzle-Teil waren für die Richter dann die Handschellen, die an der Leiche des Kindes gefunden wurden. Es sei als «eher lebensfremd anzunehmen, dass er diese dem Mädchen nach ihrem Tod angelegt habe, sagte Demel. Thorsten V. verfolgte die Urteilsverkündung ohne sichtbare Reaktion. Regungslos saß er in seinem Spezialrollstuhl, die Kapuze tief in sein von Narben entstelltes Gesicht gezogen. Sein Anwalt Ramazan Schmidt, der Freispruch gefordert hatte, weil er "nicht genug Indizien" sehe, kündigte Revision an. (afp/ap) DIE CHRONOLOGIE DES VERBRECHENS Der Mordfall Julia begann am 29. Juni 2001: Das Kind wird gegen 18 Uhr zum letzten Mal in der Nähe eines Spielplatzes in Biebertal gesehen. 3. Juli: In der Nacht wird in einem Wald knapp 80 Kilometer von Julias Heimatort entfernt unter einem verbrannten Holzstoß eine verkohlte Leiche entdeckt. 5. Juli: Die DNA-Analyse ergibt: Es ist Julia. 11. Juli: Das Mädchen wird beigesetzt. 6. August: Thorsten V., ein Nachbar der Familie, erleidet bei einer Benzinverpuffung in seinem Keller Verbrennungen. Wollte er Beweise vernichten? Die Soko "Julia" ermittelt. 20. August: Thorsten V. gilt als überführt, ist aber nicht vernehmungsfähig. 21. September: Der Verdächtige erwacht aus dem Koma. Es ergeht Haftbefehl. 20. März 2002: Die Gießener Staatsanwaltschaft erhebt Anklage. 7. August: Einem Prozess steht nach einem medizinischen Gutachten nichts mehr im Weg. 6. November: Der Prozess beginnt vor dem Landgericht Gießen. 13. Mai: Die Verteidigung fordert überraschend Freispruch aus Mangel an Beweisen. (dpa)