Rechtsanwältin Jacqueline Ahmadi und ihr Bruder, Ex-Profiboxer Hamid Rahimi, wollen eine Denkfabrik aufbauen, um die Taliban zu stoppen.

Seine Ohnmacht und all die Verzweiflung, die sich aufgestaut hat in den vergangenen Wochen, kann Hamid Rahimi am besten anhand jenes Bildes beschreiben, das am 23. August um die Welt ging. Das Bild davon, wie die Taliban nach der Machtübernahme in Afghanistan ihre erste Loja Dschirga, die große Versammlung, ausgerechnet in dem Gebäude in Kabul abhielten, in dem er einen der spannendsten Tage seines mit unglaublichen Erlebnissen übervollen Lebens gestaltete, hat den 37 Jahre alten Hamburger nachhaltig verstört.

„Die Taliban, Feinde des Friedens, ausgerechnet an dem Ort, an dem ich meinen Kampf für den Frieden machen durfte. In einem Gebäude, das von deutschem Steuergeld neu errichtet wurde. Dieser Schmerz lässt mich nicht los“, sagt er.

Hamid Rahimi schrieb 2013 seine Biographie

Hamid Rahimi, geboren 1983 in der afghanischen Hauptstadt und zehn Jahre später als Kriegsflüchtling mit seiner Familie nach Hamburg gekommen, hat niemals aufgehört, die Heimat im Herzen zu tragen. Die Traumata einer Kindheit im Krieg, die ihn in Deutschland auf die schiefe Bahn brachten, die bis ins Gefängnis führte, hat er unter großen Mühen, mit eisernem Willen und dank einer Karriere als Profiboxer hinter sich gelassen und in seiner 2013 erschienenen Biografie „Die Geschichte eines Kämpfers“ aufgearbeitet.

2013 veröffentlichte Hamid Rahimi seine Biografie.
2013 veröffentlichte Hamid Rahimi seine Biografie. © picture alliance / dpa | Axel Heimken

Sein Engagement als Friedenskämpfer, das im Oktober 2012 im „Fight for Peace“ gipfelte, ging um die Welt.

Kampf gegen Said Mbelwa – ein ideologisch aufgeladenes Faustgefecht

Als der Mittelgewichtler vor nunmehr fast neun Jahren in Kabul gegen Said Mbelwa aus Tansania in den Ring stieg, zu einem sportlich kaum bedeutenden, ideologisch aber extrem aufgeladenen Faustgefecht, da wähnte er sich an einem Etappenziel angekommen.

Hamid Rahimi (r.) im Oktober 2012 in Kabul gegen Said Mbelwa
Hamid Rahimi (r.) im Oktober 2012 in Kabul gegen Said Mbelwa © AFP/Getty Images | Getty Images

„Ich wollte damals vor allem der Jugend in Afghanistan zeigen, was möglich ist, wenn man an seine Träume glaubt“, sagt er, „diesen Kampf bestreiten zu können gab mir das Gefühl, dass wir es tatsächlich schaffen könnten, dem Land dauerhaften Frieden zu schenken.“

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Er wäre am liebsten sofort nach Kabul geflogen

Hamid Rahimi sitzt, während er diese Worte sagt, auf der Außenterrasse des italienischen Restaurants Casa di Roma an der Langen Reihe. Seinen letzten von 24 Profiboxkämpfen hat er im April 2014 bestritten, sein Geld verdient er im Immobiliengeschäft, zudem hat er sich in Dubai einen florierenden Uhren- und Schmuckhandel aufgebaut.

Als die Nachrichten von der Machtübernahme der Taliban und dem überstürzten Abzug der westlichen Allianz aus Afghanistan über die Welt hereinbrachen, saß er im Urlaub auf Ibiza – und wusste sofort, dass auch sein Leben eine neue Wendung nehmen würde. „Am liebsten wäre ich sofort nach Kabul geflogen“, sagt er.

Jacqueline Ahmadi kämpft Seite an Seite mit ihrem Bruder

Zum Gespräch mit dem Abendblatt hat er seine Schwester mitgebracht. Jacqueline Ahmadi (44) ist Rechtsanwältin, spezialisiert auf Strafrecht, doch in diesen Tagen kämpft sie Seite an Seite mit ihrem Bruder wieder einmal um etwas viel Größeres. Die furchtbaren Nachrichten aus der Heimat haben die Geschwister rastlos gemacht. „Mehr als zwei Stunden Schlaf pro Nacht bekommen wir kaum“, sagt Jacqueline Ahmadi, die Besonnene des Duos.

Hamid Rahimi, der seine Hyperaktivität weiterhin mit täglichen Trainingseinheiten einzudämmen versucht, saugt gierig an den Zigaretten, die er in Kette raucht, die Müdigkeit bekämpft er mit viel Kaffee.

Hamid Rahimi: "Die Hilflosigkeit ist das schlimmste Gefühl"

Bis tief in die Nacht halten sie Kontakt mit Familie, Freunden, Wegbegleitern, die in Afghanistan ausharren. Telefonieren ist über WhatsApp noch möglich, die Internetverbindung wird allerdings von Tag zu Tag schlechter. Was die beiden besonders betroffen macht, ist die Hilflosigkeit, mit der das afghanische Volk den islamischen Gotteskriegern ausgesetzt ist. Geschichten von Menschen, die verprügelt werden, weil sie im Auto Musik hören; die in Abwasserkanäle geworfen werden, weil sie eine Jeans tragen; all diese Gräuel des Alltags wiederholen sich jetzt.

„Die Hilflosigkeit ist das schlimmste Gefühl. Wenn du weißt, dass dir keiner helfen kann, bist du am Ende. Da kommen Steinzeitmenschen, die denken, ihre Kalaschnikow ist der Koran, die auf alles schießen, was sich ihnen in den Weg stellt. Was willst du als Vater tun, wenn sie deine Töchter vergewaltigen, und du nicht die Polizei rufen kannst weil diese Typen jetzt der Staat sind?“, fragt er.

"Glaubwürdigkeit der Politik hat extrem gelitten"

Groß ist der Zorn, bei den Geschwistern ebenso wie, so sagen sie, beim Großteil des Volkes in Afghanistan. Zorn darüber, dass die westliche Allianz keinen Plan dafür entworfen hatte, wie das Land nach dem Abzug ihrer Truppen in eine geordnete Zukunft hinübergleiten könnte. Es sei grundfalsch zu behaupten, dass die Menschen in Afghanistan Demokratie ablehnten und die Taliban-Herrschaft zurückgewünscht hätten, wie es in einigen Medienberichten hieß. „Das Volk ist nach 40 Jahren müde vom Krieg und davon, immer wieder bei null anzufangen. Aber die Glaubwürdigkeit der Politik hat unter den Vorgängen der vergangenen Wochen extrem gelitten. Die Arroganz und Ignoranz des Westens hat bei den Menschen zu einem tiefen Vertrauensverlust geführt“, sagt Ahmadi.

Was beide nicht verstehen können, sind die Gründe für die von der Bundesregierung eingeräumten Fehleinschätzungen der Lage vor Ort, die Versäumnisse der Geheimdienste oder die Missachtung der vielen Warnungen, die es über die 20 Jahre seit dem Zurückdrängen der Taliban durch die International Security Assistance Force (Isaf) gegeben hat. Tatsächlich kann man Hamid Rahimi nicht vorhalten, im Nachhinein alles besser zu wissen. Schon 2014 äußerte er auf einer Podiumsdiskussion mit hochrangigen Vertretern von Regierung und Bundeswehr sein Unverständnis für manche Einschätzungen. „Damals wurde ich angefeindet. Jetzt zeigt sich leider, dass ich recht hatte“, sagt er.

"Die Taliban werden über sehr viel Geld verfügen“

Mit großem Erschrecken erfahren Jacqueline Ahmadi und Hamid Rahimi immer wieder aufs Neue die Gleichgültigkeit, mit der in Deutschland auf die Entwicklung reagiert wird. „Viele glauben, Afghanistan sei weit weg und die Probleme dort gingen sie nichts an“, sagt Rahimi. Das jedoch sei ein gefährlicher Trugschluss angesichts des Strategiewechsels, mit dem die Taliban ihre neue Herrschaft angehen. „Sie sind leider ex­trem schlau geworden, nutzen das Internet für ihre Propaganda und infiltrieren damit das gemeine Volk“, sagt Ahmadi.

Ihre größte Sorge sei indes, dass die westliche Allianz den Islamisten ein Land überlassen hat, das fast zweimal so groß wie Deutschland ist und über riesige Vorkommen an weltweit gefragten Bodenschätzen wie Eisenerz und Gold, aber auch für die Herstellung von grünen Zukunftstechnologien notwendigen Metallen wie Lithium und Kobalt verfügt. „Der Handel mit China ist aufgeblüht, die Taliban werden über sehr viel Geld verfügen“, sagt Rahimi. Dazu komme das gewaltige Waffenarsenal, das die alliierten Truppen zurückgelassen haben.

Hamid Rahimi: "Sie werden Wege in jedes Land finden"

„Wer glaubt, dass die Taliban nur Afghanistan regieren wollen, der irrt gewaltig“, sagt Jacqueline Ahmadi, „sie werden versuchen, die ganze Welt mit ihrer Ideologie zu vergiften.“ Hamid Rahimi ist überzeugt davon, „dass sie Wege in jedes Land finden werden, wenn sich die Weltgemeinschaft nicht entschlossen gegen sie stellt. Ihr Gedankengut ist wie ein Virus, schlimmer als Corona.“ Das Geld, das jetzt notwendig sei, um eine neue Allianz zu schmieden, werde bei Weitem nicht ausreichen, um die Folgen eines weltumspannenden Terrorismus in den Griff zu bekommen, wenn man die Taliban nun gewähren lasse.

Eine neue Allianz zu schmieden – das ist das, was Jacqueline Ahmadi und Hamid Rahimi seit vielen Tagen den Schlaf raubt. Die Anwältin ist fast ununterbrochen damit beschäftigt, in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt Namen auf die Liste jener 40.000 Menschen zu setzen, die Deutschland aus Afghanistan aufnehmen will. Grundsätzlich jedoch sind die Geschwister überzeugt davon, dass es der falsche Weg ist, die besten jungen Menschen aus dem Land zu holen. „Afghanistan ist über viele Jahre ausgeblutet. Trotzdem gibt es immer noch eine große Opposition und viele junge Leute, die die Taliban ablehnen. Diese Menschen müssen wir im Land stärken“, sagt Rahimi.

Seine Schwester setzt darauf, eine breite Allianz aufzubauen

Er selbst stehe in Kontakt mit hochrangigen Funktionären und Politikern, die damals seinen Friedenskampf unterstützt haben, sei aber auch im Gespräch mit Führungskräften der afghanischen Armee. Er ist in Kabul ein Volksheld, ein Freund sagte ihm kürzlich, er könne sofort 5000 Mann mobilisieren, die an Rahimis Seite die Taliban aus der Stadt drängen wollten. „Ich bin kein Soldat, will nicht mit der Waffe kämpfen. Aber als Dolmetscher oder Vermittler würde ich sofort hinfliegen“, sagt er. Seine Schwester ist diejenige, die ihn immer wieder bremst.

Sie setzt darauf, eine breite Allianz aufzubauen aus Politikern, Exil-Afghanen, vor allem aber auch aus Menschen im Land, deren Stimme gehört werden müsse. „Es muss endlich mit den Afghanen geredet werden, nicht nur über sie“, sagt sie. „Was alle Afghanen im Ausland verbindet, ist der Schmerz, den wir in jeder unserer Zellen tragen. Aber dieser Schmerz ist auch unser Antrieb, niemals aufzugeben, sondern weiterzukämpfen.“

Eine Denkfabrik für die richtige Strategie im Umgang mit den Taliban

Was den Geschwistern vorschwebt, ist der Aufbau einer Denkfabrik, in der Ideen für die richtige Strategie im Umgang mit den Taliban geschmiedet werden. Mit rund 15 Unterstützenden haben sie die Arbeit daran bereits aufgenommen, ein vielseitiges Konzept ist schon erstellt und wird in sozialen Netzwerken geteilt. Nun gehe es darum, die Bundesregierung von einer neuen Afghanistan-Mission zu überzeugen. Und vor allem auch finanzielle Hilfe zu erlangen. Sie selbst wollen kein Geld, „uns geht es materiell sehr gut“, sagt Jacqueline Ahmadi. „Aber wir brauchen dringend eine breite Unterstützung. Man muss kein Afghane sein, um das menschliche Leid zu ermessen, das gerade vor allem die Frauen trifft. Deren Rechte fallen unter der Scharia auf Steinzeitniveau zurück.“

Die Anwältin fordert zudem eine lückenlose Aufarbeitung des politischen Versagens. „Über einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss muss geklärt werden, wie es zu den Fehleinschätzungen der Bundesregierung kommen konnte“, sagt sie. „Die deutschen Steuerzahler haben das Recht zu erfahren, wohin ihr Geld geflossen ist und wie es sein konnte, dass eine solche Planlosigkeit herrschte.“

"Hamid Karzai wollte das Land und das Volk voranbringen"

Außerdem müsse künftig deutlich mehr darauf geachtet werden, mit wem man zusammenarbeite. „Beim früheren Präsidenten Hamid Karzai bin ich ein- und ausgegangen, er wollte das Land und das Volk voranbringen. Mit seinem Nachfolger Aschraf Ghani habe ich mich noch nie getroffen. Er hat die Taliban als Brüder bezeichnet und in einer Amnestie Tausende von ihnen aus dem Gefängnis entlassen. Mit so einem Menschen sollte man nicht kooperieren“, sagt Rahimi.

In den vergangenen Jahren hat er sich öfter die Frage gestellt, ob Frieden in Afghanistan überhaupt das gemeinsame Ziel war oder ob jede beteiligte Nation ihre eigenen Interessen voranstellte. Natürlich weiß auch er, dass eine einfache Lösung in einem so komplizierten Land wie Afghanistan mit seinen verfeindeten Volksgruppen nicht zu finden ist. Er ist allerdings überzeugt davon, dass schon in den Jahren nach dem Umsturz im Land eine „Entzauberung“ der islamistischen Ideologie notwendig gewesen wäre. „Hätte man die Taliban damals als normale Partei an der Regierungsarbeit beteiligt, hätten die Menschen schnell gemerkt, mit wem sie es wirklich zu tun haben, dass sie Mörder, Lügner und Verbrecher sind. Jetzt können sie sich als Sieger über die westliche Macht präsentieren, das tut mir ganz besonders weh“, sagt er.

Wofür sind so viele Menschen gestorben?

Der Mann, der den Kampfnamen „Drache“ führte, als er noch für Geld in den Ring stieg, möchte in den kommenden Wochen unbedingt Antworten auf die Fragen geben, die ihm immer wieder gestellt werden: Wofür wurden über 20 Jahre so viele Milliarden ausgegeben? Wofür sind so viele Menschen gestorben? Ist es überhaupt noch etwas wert, für seine Überzeugungen zu kämpfen, oder muss man Afghanistan aufgeben? Er selbst hat seine Überzeugung längst gefunden. „Nur eine Nation ohne Hoffnung ist eine tote Nation“, sagt er, es ist das Leitmotiv, das sich die Denkfabrik gegeben hat. Nun wird Hamid Rahimi also wieder kämpfen. Nicht um Titel oder Geld, sondern darum, Afghanistans Hoffnung zu bewahren.