25 Jahre nach dem Mauerfall wanderten der Weltenbummler Achill Moser vom Norden und der Schriftsteller Matthias Politycki vom Süden durch Deutschland. Im Harz trafen sie sich am Brocken.

Apfelschimmelwolken sind meine Gefährten. Der Wind treibt sie über den blauen Himmel. Unablässig führt er mit ihnen ein Licht- und Schattenspiel, legt bewegliche Muster und Scherenschnitte über die knallgelben Rapsfelder, die sich links und rechts meines Weges erstrecken. Das sind regelrechte Ozeane. Gelb, gelb, gelb – so weit das Auge reicht.“ So beginnt der Weg von Achill Moser von Nord nach Süd.

„Eben noch bin ich wohlgemut bergab durchs oberfränkische Fachwerkdörfchen Steinbach gegangen, habe im Tal, kurz vor Überschreiten des ehemaligen Grenzbachs zur DDR, eine Holzhütte des Bundesgrenzschutzes entdeckt, in der man noch zwei mittlerweile vermoderte Sessel sehen kann, schon stehe ich im dichten Unterholz. Das also soll es sein, das Grüne Band, auf dem ich locker von der tschechischen Grenze bis zum Harz wandern wollte.“ So beginnt der Weg von Matthias Politycki von Süd nach Nord.

Ein Weltenbummler und ein Schriftsteller haben sich auf den Weg gemacht. Achill Moser, 60, und Matthias Politycki, 59, wanderten aus zwei Richtungen durch Deutschland und trafen sich in der Mitte. Sie waren auf einer Route unterwegs, an der dieses Land vor einem Vierteljahrhundert in Ost und West geteilt war. Sie beschritten eine Grenze, die das eine Land zu einem Hochsicherheitstrakt gemacht hat, aus dem es nur unter Lebensgefahr ein Entkommen gab. Oder auch nicht. Etwa 1000 Menschen – die Zahlen schwanken, die Forschungen sind noch nicht abgeschlossen – bezahlten ihren Versuch, über den Todesstreifen nach Westen zu flüchten, mit dem Leben.

Heute trägt diese Todesgrenze, die einst für 1,8 Milliarden DDR-Mark errichtet und für weitere geschätzte 500 Millionen Mark pro Jahr in Betrieb gehalten wurde, einen anderen Namen: das Grüne Band. Das klingt hoffnungsvoll, und dahinter verbirgt sich ein Projekt, für das der frühere sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow im Jahr 2003 die Schirmherrschaft übernommen hat und das in erster Linie vom BUND initiiert wurde. Er setzt sich jetzt an diesem einstigen 1400 Kilometer langen Elendsstreifen für eine möglichst lückenlose Kette von Biotopen ein. Schwarzstörche statt Selbstschussanlagen, Moorlandschaften statt Minenfelder.

Sie haben sich zu zweit auf den Weg gemacht. Warum? „Alleine hätte ich es nicht gemacht“, sagt Moser. Wichtig war ihnen das Erzählen und Erfahren aus zwei unterschiedlichen Sichtweisen. „Deutschland aus zwei verschiedenen Perspektiven.“ Manchmal könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Achill Moser ist auf dem Priwall losgegangen. „Eine sturmerprobte Halbinsel, die von oben einer Büffelzunge gleicht, die Ostseewasser leckt.“ Das Wandern ist des Mosers Lust. Der Hamburger hat als erster Mensch 25 Wüsten durchlaufen, er hat überall auf dem Globus grandiose Landschaften gesehen. Über die Strecke von Lauenburg nach Wittenberge sagt er: „Das waren mit die schönsten 90 Kilometer meines Lebens.“ Die Stille, der Himmel, die Vögel, der Fluss. Sattgrüne Wiesen, die mit Blumen überschüttet sind. „Als wäre eine Feldschlacht unter Löwenzahn, Butter-, Puste- und Mohnblumen ausgebrochen.“

Matthias Politycki sagt über seine ersten Kilometer: „Meine Etappen an der Grenze von Bayern und Thüringen waren das Frustrierendste, was ich als Wanderer je erlebt habe.“ Er spricht von einer Durchschlage-Übung im Unterholz. „Dass ein Biotop in Deutschland derartig undurchdringlich sein kann, hätte ich nicht erwartet.“ Und in den Dörfern „strecken die Männer ihre prall bespannten Bäuche mit einer Selbstverständlichkeit in die Straße hinein, als wäre hier bereits das bloße Verharren ein Verdienst“. Er beschreibt eine „Reise in eine längst verlorene Zeit“. Irgendwie anrührend. „Und die Orte auf unserer Tour haben so wunderbare Namen wie Mittelhammer, Hölle, Gottmannsgrün oder Großburschla.“

Auch die Ansichten über das Grüne Band sind unterschiedlich. Moser spricht von einem „Naturschutzprojekt mehrerer deutscher Bundesländer, die in vielen Regionen einen einzigartigen Grüngürtel schufen“. Mehr als 5200 verschiedene Tier- und Pflanzenarten seien bislang im Grünen Band kartiert. „Eine Schatzkammer der Artenvielfalt.“

Politycki berichtet vom gewaltigen Widerstand der Landwirte gegen das Grüne Band, die oft, so erzählt man sich in der Region, eigenmächtig den Plattenweg entfernt hätten. Keiner mache mehr was, das Grüne Band sei heute nur noch „ein Wanderweg für Luchse, Ratten und Mäuse“. Aufklärung über den aktuellen Zustand erhalten sie von Holger Keil. Er ist einer der Projektleiter des Grünen Bandes und für 130 Kilometer Grenzstreifen zuständig. Bisher seien 60 Prozent des Grünen Bandes im Besitz von BUND, Nabu oder Länderstiftungen. Das Ganze ist noch ein ziemlicher Flickenteppich. „An manchen Orten wird es als nationales Erbe gepflegt, an anderen Stellen wird es sich selbst überlassen und verbuscht rapide.“

Wichtig waren den beiden Wanderern die Begegnungen mit den Menschen. Viele haben bereitwillig erzählt, wie sie es hinter der Mauer ausgehalten und sich damit arrangiert haben, nie nach New York oder Paris zu kommen. Moser trifft einen ehemaligen Offizier der Volksarmee, für den der Mauerfall kein glückliches Ereignis gewesen ist. „Das war eine schlimme Situation vor 25 Jahren“, hat er ihm erzählt. „Alles ging den Bach runter. Niemand wusste, was nun eigentlich wird. Zwar waren wir ja alle bewaffnet. Doch niemals hätten wir aufeinander geschossen. Wir waren ja schließlich ein Arbeiter- und Bauernstaat. Und wir waren überzeugt davon, dass wir eigentlich der bessere Staat sind.“

Politycki trifft John Stifel, der 1987 auf der Gobert, einem bis zu 570 Meter hohen Höhenzug zwischen Hessen und Thüringen, einen Stasi-Tunnel entdeckt hat. Tags darauf sieht er ihn sich selbst an. „Ein etwa 40 Meter langer Tunnel, durch den man auch heute noch hindurchkriechen könnte.“ Eine Betonröhre, die auch als Agentenschleuse genutzt werden konnte.

Ist das Land noch geteilt? „Es ist noch nicht überall zusammengewachsen“, sagt Achill Moser. Vielerorts regiert graue Tristesse. Kaum noch junge Leute, Orte ohne Einkaufsladen, Dörfer ohne Gasthof. Und Städte, in denen in jedem zweiten Haus ein Schild hängt: „Zu verkaufen.“ Aber sie treffen auch auf Orte, die Mut machen. Im thüringischen Berlingerode besucht Matthias Politycki das „Gesundheits- und Erlebnishotel Alte Dorfschule“. Zu 98 Prozent barrierefrei versuche man dort, die Grenzen einzureißen zwischen gesunden und behinderten Menschen, denen sogar Gerätetauchen angeboten werde – oder Segelfliegen. Im alternativmedizinischen Zentrum werde von der Blutegel- bis zur Hightech-Biofrequenztherapie so viel angeboten, „dass man aus dem skeptischen Grinsen bald ins Staunen gerät“. Ausgependelte Gemüsesäfte, schamanistische Sitzungen? „Man mag darüber den Kopf schütteln“, sagt Politycki, „aber ständig parken Reisebusse aus dem In- und Ausland vor dem Hotel.“ Er spricht von einem Hotspot, „wie es in all den öden Orten der ehemaligen Sperrzone viel zu selten einen gibt“. Das sei die Botschaft.

Vier Wochen waren sie jeweils unterwegs. Und trafen sich in Schierke im Harz wie geplant im „Brockenstübchen“. Zu einer deftigen Brotzeit mit Schinken, Senf, Harzerkäse und Bier. Am nächsten Tag stiegen sie gemeinsam den Brocken hinauf. „Der deutscheste aller Berge“, wie Heinrich Heine den 1141 Meter hohen Brocken nannte. Auch Goethe bestieg den Gipfel dreimal. Erstmals am 10. Dezember 1777, als der Aufstieg auf den touristisch völlig unerschlossenen Brocken noch ein waghalsiges Abenteuer gewesen ist. Nach Goethe und Heine ist je ein Wanderweg benannt.

DDR-Grenzsoldaten und russisches Militär waren dort stationiert. Auch Hexen und Teufel sollen hier am Blocksberg einst getanzt haben. Noch heute wird die Walpurgisnacht gefeiert. Ein Fest, das an die heilige Walpurga erinnert, die die Menschen vor den Zauberkräften reitender Hexen schützen soll, die nachts auf ihren Besen hinauf zum Brockengipfel fliegen.

Moser und Politycki gehen zu Fuß. Und an ihrer Seite geht Benno Schmidt. 82 Jahre alt und besser bekannt als Brocken-Benno. Er geht zum 7353. Mal dort hoch. 28 Jahre lang, so erzählt er, habe er sich beim Blick aus seinem Wernigeroder Dachfenster geärgert, dass man ihm den Brocken 1961 weggenommen hat. Seit dem Mauerfall wandert er Kilometer um Kilometer gegen das Vergessen. Er möchte nachholen, was man ihm verwehrt hat, als der Berg militärisches Sperrgebiet war. Dreimal hat er es schon in das Guinnessbuch der Rekorde geschafft. Jeder, der ihnen auf dem Weg begegnet, will ein Autogramm oder ein Foto mit Brocken-Benno.

Benno Schmidt hat den 130 Kilometer langen Weg eigenmächtig als „Harzer Grenzweg“ markiert und damit die Behörden überrumpelt. „Man kann gar nicht hoch genug schätzen, was Brocken-Benno in seiner eigensinnigen Art für die gesamte Region geleistet hat“, sagt Politycki, „und wie viel er durch seine Präsenz in den Medien noch immer für sie tut.“ Als „Botschafter der Vergangenheit“ habe er zumindest den Ostharz in die Zukunft begleitet.

Woran werden sie sich erinnern, wenn sie an ihre Wanderung zurückdenken? „An die Farben der Wälder und Wiesen auf dem Grünen Band“, sagt Achill Moser. An die vielen Gesichter in Ost und West. „Jedes eine Bühne für sich.“ An die Gedenksteine, die von gescheiterten Fluchtversuchen berichten. „An den ruhigen Flusslauf der mäandernden Elbe.“ Und an einen Satz, den er auf einer Bodenplatte der DDR-Kontrollstelle Helmstedt/Marienborn gelesen hat: „Erinnerung ist die Währung, mit der sich eine Gesellschaft organisiert.“

Am Freitag, dem 7. November, berichten Achill Moser und Matthias Politycki im Hamburger Museum für Völkerkunde von ihrer Wanderung entlang der 1400 Kilometer langen ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Die Live-Multivisionsshow „Zu Fuß durch Deutschland“ beginnt um 19.30 Uhr, Rothenbaumchaussee 64. Karten gibt es in allen Heymann-Buchhandlungen und im Museum. Eintritt: 14 Euro (neun Euro ermäßigt).