Hamburg. Tony Martin über das Drama bei der Tour de France, den Olympiatraum, Comebackpläne nach dem Schlüsselbeinbruch und die Vertrauenskrise.

Eine Sache muss Tony Martin vor der Verabschiedung noch loswerden: ob bitte erwähnt werden könne, wie gut er sich aufgehoben fühlt im Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus Hamburg, in das er am frühen Freitagmorgen eingeliefert worden war. Eine Titanplatte neuesten Typs ist ihm in der linken Schulter eingesetzt worden. Sie soll das Schlüsselbein zu fixieren, das er sich bei der Tour de France am Donnerstag in der Schlussphase der sechsten Etappe gebrochen hatte. Das Gelbe Trikot, das er sich danach letztmals überstreifen durfte, lagert in der Reisetasche neben dem Krankenbett. Matthias Hahn, Martins langjähriger Trainingspartner, ist auch da, um seinem besten Freund zu beizustehen.

Hamburger Abendblatt: Herr Martin, wie geht es Ihnen?

Tony Martin: Den Umständen entsprechend gut. Die Operation ist sehr gut verlaufen, ich kann den Arm schon ein bisschen bewegen. Ich bin froh, dass alles so gut organisiert wurde. So ein offener Bruch ist ja doch nicht ganz unkritisch, man weiß nie, ob nicht Bakterien in den Körper gelangen. Da musste schnell gehandelt werden.

Wie kam es zu dem Unfall?

Martin : Ich habe ihn mir auf dem Handy angeschaut, aber nur wenig Erinnerung daran. Ich bin sicher am Hinterrad meines Vordermanns hängengeblieben. Aber warum ich nach rechts ausschere, kann ich nicht sagen. Bei einem Sprint ist viel Nervosität im Spiel, weil man keine Zeit verlieren will. Es ist einfach unglücklich gelaufen.

Was schmerzt mehr: die Schulter, oder bei der Tour zuschauen zu müssen?

Martin : Definitiv das Letztere. Ich habe die Jungs schweren Herzens verlassen, habe mir am Freitag auch nach dem Aufwachen gleich die Liveübertragung angeschaut. Ich leide und fiebere immer noch mit und hätte den Jungs gern geholfen, ihre individuellen Ziele zu erreichen.

War das Gelbe Trikot diesen hohen Preis wert?

Martin : Auf jeden Fall. Wenn mir vorher das Gelbe Trikot und einen Etappensieg gegen einen Schlüsselbeinbruch angeboten hätte, hätte ich den Deal angenommen. Das mag sich hart anhören, aber es ist die Tour. Da gehst du davon aus, in der ersten Woche ein- zweimal zu stürzen.

Immerhin sind Sie jetzt eine Legende. Im Gelben Trikot sind nur wenige ausgeschieden.

Martin : Die ganze Tour war ein Auf und Ab der Gefühle. Erst die vergebliche Jagd nach dem Gelben Trikot, dann die Triumphfahrt und schließlich das Aus. Mit einem gewissen Abstand werde ich darauf stolz zurückschauen können.

Täuscht der Eindruck, oder wird bei der Tour noch härter gefahren als bisher?

Martin : Man ist jedes Jahr aufs Neue überrascht, wie viele Fahrer verletzungsbedingt ausscheiden. Wenn ich an meine früheren Starts zurückdenke, da haben schon die enge Streckenführung und die Wind- und Wetterverhältnisse oft für Stürze gesorgt. Da hat sich wenig geändert.

Aber das Profil war diesmal sehr selektiv und nicht das übliche Einrollen.

Martin : Es wurde versucht, eine Art Klassikerwoche zu inszenieren, um die Spannung hochzuhalten. Ich finde das gut, es macht das Rennen interessanter – aber natürlich auch gefährlicher. Wenn man das überlebt, kann man als großer Sieger rausgehen.

Wird Ihr Erfolg das Interesse am Radsport steigern oder das Misstrauen?

Martin : Beides. Faszination und Ablehnung liegen bei der Tour naturgemäß eng beisammen, wobei die Faszination in der ersten Woche sicher noch überwiegt. Bei den Fahrern in Gelb gab es keinen Anlass zum Misstrauen. Wenn es dann in die Berge geht und ein Fahrer die anderen wie Schüler aussehen lässt, kommen die Zweifel auf – auch bei mir.

Der aktuelle Dopingfall Luca Paolini …

Martin : … ist sehr bedauerlich, weil er wieder negative Schlagzeilen bringt – ganz unabhängig von der Frage, wie das Kokain in seinen Körper gelangt ist. Da bekomme ich einen Hals.

Das Gelbe Trikot war ein Lebenstraum. Welche Wünsche sind noch offen?

Martin : Ich bin da auch in mich gegangen. Was wirklich schön wäre: Die Goldmedaille bei Olympia, vielleicht der Sieg bei einem großen Eintagesrennen, mit Glück vielleicht der Weltmeistertitel im Straßenrennen.

Hamburg würde gern 2024 Olympia ausrichten. Dann sind Sie immer noch in einem guten Radsportalter.

Martin : Wenn Hamburg die Spiele holt, werde ich definitiv so lange Rad fahren. London 2012 waren meine ersten Spiele. Da habe ich das olympische Motto „Dabeisein ist alles“ erst richtig verstanden. Die Silbermedaille im Zeitfahren war ein toller Erfolg, aber die Ehre, Teil dieses großartigen Ereignisses zu sein, hat mir sehr viel gegeben. Meinetwegen könnte meine Karriere nur noch aus Olympischen Spielen bestehen. In Hamburg die Karriere zu beenden wäre das Größte für mich.

Bei den Cyclassics haben wir Sie immer schmerzlich vermisst.

Martin: Es hat bisher einfach terminlich nicht gepasst. Ich habe die Spanienrundfahrt vorgezogen, um mich auf die WM vorzubereiten. In diesem Jahr habe ich den Start fest eingeplant und hoffe, die Verletzung lässt es zu.

Wie sieht der Heilungsplan aus?

Martin: Ich kann sechs Wochen nicht in den Rennbetrieb einsteigen. Aber ich rechne damit, dass ich Mitte, Ende der Woche wieder auf dem Hometrainer sitzen kann. Die Weltmeisterschaften Ende September in den USA sind wohl nicht gefährdet.

Der deutsche Radsport steht sportlich glänzend da. Es gibt Siegkandidaten im Zeitfahren, im Sprint, bei Klassikern. Was fehlt, ist ein Rundfahrtspezialist. Wäre das noch ein Ziel für Sie?

Martin: Das würden einige vielleicht gern sehen. Es ist ja nicht so, dass ich es nicht versucht hätte und daran gescheitert wäre. Ich bin froh, dass ich mich aus dem Profil des reinen Zeitfahrers herausgearbeitet und vielleicht auch das Potenzial habe, Klassiker zu gewinnen. Ein Podiumsplatz bei der Tour ist nicht realistisch. Und ich halte es auch nicht unbedingt für erstrebenswert, weil jeder weiß, welch große Fragezeichen dahinterstehen. Immer hinterfragt zu werden, das wäre nichts für mich.