Rio/Hamburg. Ein starker Endspurt sollte nicht über zahlreiche nicht erfüllte Erwartungen hinwegtäuschen. Das sieht auch DOSB-Präsident Hörmann so.

Die erste gute Nachricht: Deutschland hat sich im Vergleich zu London vor vier Jahren bei den XXXI. Olympischen Spielen in Rio de Janeiro im Medaillenspiegel um einen Platz auf Rang fünf verbessert. Die erste schlechte Nachricht: Die Zielvorgabe des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), die Anzahl des Edelmetalls der vorigen Spiele zumindest zu egalisieren, wurde mit 42 um zwei Medaillen verfehlt. "Wenn wir es rein auf den Medaillenspiegel projizieren, dann können wir mit dem Ergebnis absolut zufrieden sein“, sagte DOSB-Präsident Alfons Hörmann der Deutschen Presse-Agentur.

Die zweite gute Nachricht: Mit 17 Goldmedaillen feierten die deutschen Athleten so viele Olympiasiege wie seit den Spielen in Atlanta 1996 nicht (damals waren es 20). Die zweite schlechte Nachricht: Bei steigender Anzahl der Entscheidungen sinkt die Gesamtausbeute seit Barcelona 1992, als das wiedervereinte Deutschland noch 82 Medaillen sammelte, kontinuierlich. Die 42 Plaketten von Rio bedeuten den nächsten Tiefwert. "50 Prozent mehr Gold als in London (11/Anm.d.Red.) ist nicht so schlecht“, sagte Hörman. "Mit dem Schicksal würden manche gerne tauschen.“

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    Teamsportarten so gut wie nie

    Die dritte gute Nachricht: In den Mannschaftssportarten hat sich Deutschland gefangen, mehr noch als das. In Brasilien wurden so viele Medaillen wie noch nie in der olympischen Geschichte geholt. Alle fünf Teams kehrten mit etwas Zählbarem zurück. Gold holten die Fußball-Frauen, Silber die Männer, zudem gewannen beide Hockey-Mannschaften und die Handballer Bronze.

    Die dritte schlechte Nachricht: In klassischen, von vielen Fans als relevant erachteten Disziplinen im Schwimmen und der Leichtathletik, hält der Sinkflug an. Der Deutsche Schwimm-Verband (DSV) erlebte mit gerade einmal einer Bronze-Medaille durch Wasserspringer Patrick Hausding ein historisches Debakel. Und die Leichtathleten landeten nach dem Zwischenhoch von London (acht Medaillen nach zuvor nur einer einzigen in Peking) mit drei Medaillen wieder auf dem Boden der Tatsachen.

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      Hörmann kritisiert Schwimmer

      Die Gegenüberstellung gut gegen schlecht ließe sich beliebig fortsetzen und verdeutlicht somit, wie diffizil eine treffende Analyse des deutschen Rio-Ergebnisses ist. Doch diese ist gerade in den Verhandlungen über die künftige Förderung im deutschen Spitzensport von erheblichem Interesse. Schließlich ziehen die einzelnen Fachverbände, aber auch DOSB und das Bundesinnenministerium (BMI) die blanken Zahlen gerne als Argumente im Geschacher um neue Gelder heran.

      Den einzelnen Sportverbänden drohen nach teils großen Enttäuschungen am Zuckerhut jedenfalls harte Konsequenzen. "Wir haben Verbände wie Schwimmen, Leichtathletik, die Radfahrer, die die Ziele klar und deutlich verfehlt haben“, kritisierte Hörmann. Darüber konnten auch die drei Gold-Medaillen kurz vor Schluss nicht mehr hinwegtäuschen. "Es gibt Handlungsbedarf“, kündigte Hörmann an. "Man muss gemeinsam analysieren, warum stehen wir da. Dort, wo keinerlei Medaillen erreicht wurden, beispielsweise im Schwimmen, stellt sich natürlich die Frage, wie schaffen wir es?“

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        Hörmann will an Reform festhalten

        Der DOSB-Präsident hatte bereits zur Halbzeit der Spiele angekündigt, dass das Medaillenziel von 44 Mal Edelmetall verfehlt werde und harte Konsequenzen insbesondere für einzelne Verbände angekündigt. „Ein Weiter so kann und darf es nicht geben“, sagte er damals. Nun musste er sogar Chef de Mission Michael Vesper gratulieren, der - im Nachhinein zurecht - 16 Mal Gold prognostiziert hatte, „als viele - inklusive mir - nicht mehr dran geglaubt haben“.

        Trotz des starken Schlussspurts müssen laut Hörmann die grundlegenden Probleme im deutschen Sport nun angegangen werden. „Wir haben gesagt, fünf oder zehn Medaillen mehr oder weniger werden jetzt nichts Entscheidendes an der Reform ändern“, erklärte Hörmann. Die Leistungssportreform hat der DOSB bereits auf den Weg gebracht, sie soll nach Angaben von Sportchef Dirk Schimmelpfennig bis Anfang 2018 weitgehend umgesetzt sein.

        Breitere Aufstellung angemahnt

        Die Spiele in Tokio 2020 sind demnach nur eine Zwischenstation, Ziel sei, dass die Reform von 2024 an greift. „Wenn man über Reformbedarf und Neuaufstellung diskutiert, dann ist da schon eher der mittelfristige Charakter, und da würde ich 2024 und 2028 eher im Vordergrund sehen“, sagte Hörmann. Schimmelpfennig forderte: „Wir müssen versuchen, uns in Zukunft breiter aufzustellen, um mehr Möglichkeiten zu haben.“

        Mit Kritik sparte Schimmelpfennig schon vor der ausführlichen Analyse im September nicht. DOSB und Bundesinnenministerium müssten „stärker in der Förderung darauf achten, dass Verbände, die eine entsprechende Struktur garantieren (...), eben anders unterstützt werden, als Verbände, die das nicht sicherstellen“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Der Sportchef kündigte bei einigen Kernsportarten empfindliche Einschnitte und bessere Kontrollen an.

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          Hörmann macht einige Sorgenkinder aus

          Hörmann kritisierte vor allem Radfahrer, Leichtathleten und Schwimmer für ihr enttäuschendes Abschneiden in Rio. „Zumal das ja nicht das erste Mal der Fall ist, dass die Bilanz eine relativ unerfreuliche ist“, erklärte er mit Blick auf die Schwimmer. „In dem Fall müssen wir einfach gemeinsam diskutieren, was muss im Verband passieren, was muss in Stützpunkten geschehen.“ Auch Judokas oder Fechter hätten ihre Ziele verfehlt. „Wir haben zweifelsohne einige Sorgenkinder, wo es unter Umständen tiefgreifende Reformen erfordert.“

          Bis zum 30. September soll laut Schimmelpfennig die Analyse der einzelnen Verbände vorliegen. Zudem gibt es ein Olympia-Zeugnis vom Institut für Angewandte Trainingswissenschaften (IAT). Erste Zielvereinbarungsgespräche werde es Anfang 2017 geben. Die künftige Förderung und Strukturen werden spätestens Anfang Oktober zwischen DOSB, Verbänden und Bundesinnenministerium diskutiert.

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            Brief des Innenministeriums sorgt für Ärger

            Die Reform ist ein Reizthema. Deshalb sorgte ein kurz vor Olympia vom BMI an die Verbände adressierter Brief für Ärger. Darin wurde angekündigt, nur 75 Prozent der bisherigen Mittel für das Leistungssportpersonal für 2017 „in Aussicht“ zu stellen, um den Spitzenverbänden „mehr Planungssicherheit für die Erstellung von Trainerverträgen zu geben.

            „Es ist unglücklich, so etwas kurz vor den Spielen zu machen. Ich finde das schade“, sagte Peter Frese, Präsident des Deutschen Judo-Bundes. „Das ist so, als ob meine Frau mir während meiner Zeit in Rio gesagt hätte, wir müssen mal über unser Zusammenleben nachdenken.“ Was den Inhalt angeht, ist Frese bereits froh über die Zusage von 75 Prozent der Mittel. „Das ist normal, dass das unter Vorbehalt geschieht. Ich hoffe, dass wir auf 125 Prozent kommen.“

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              DLV-Direktor: "Rückschritt für alle Verbände"

              So entspannt sehen es nicht alle Verbände. Schließlich ist am Jahresanfang in den erstmals geführten Strukturgesprächen zwischen DOSB und Spitzenverbänden für das Leistungssportpersonal ein erheblicher Finanzmehrbedarf ermittelt worden. „Insofern vermittelt die zum aktuellen Zeitpunkt vom BMI in Aussicht gestellte Finanzierung keine hinreichende Planungssicherheit, sondern ist ein Rückschritt für alle Spitzenfachverbände“, kritisierte Thomas Kurschilgen, Sportdirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbandes.

              „Als ein elementares Strukturmerkmal der Spitzensportreform wurde stets postuliert, den Trainer und den Athleten in den Mittelpunkt aller Überlegungen zu stellen“, argumentierte er. Deshalb müssten langfristige Perspektiven, eine Verbesserung der finanziellen Rahmenbedingungen sowie eine adäquate Anzahl von Trainerstellen für die Zukunft sichergestellt werden. „Den Spitzenfachverbänden einen möglichen Abbau ihrer Trainerstrukturen bis zum Jahresende zu offerieren, erscheint mir kontraproduktiv“, meinte Kurschilgen.

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                Hörmann rechtfertigt Vorgehen

                Der DOSB sieht das anders. "Wenn man jetzt für vier Jahre 100 Prozent vorwegnehmen würde, dann hätten wir die klassische Konstellation, dass im Grunde ein 'Weiter so' für die kommende Olympiade festgeschrieben wird“, sagte Hörmann, der auch in Rio für die große Sport-Reform warb.

                „Ich habe gelesen, dass Sportdeutschland Angst vor dieser Reform hat“, sagte Hörmann. In unzähligen Gesprächen habe er aber das Gegenteil erfahren. Wenn irgendetwas entwickelt worden wäre, was zu Sorge und Angst führen würde, „dann hätten wir unsere Aufgabe nicht ordnungsgemäß gemacht“. Es gebe bis heute nicht eine einzige Stimme im deutschen Sport und in der Politik, die sagt: Vorsicht, Ihr geht in die falsche Richtung und wir machen uns Sorgen.

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                Dafür wurden immer wieder Stimmen laut, dass es bei der Entwicklung der Reform an Transparenz und Einbindung der Spitzenverbände gefehlt habe. „Tatsächlich kenne ich nur rudimentäre Linien der Reform“, sagte DLV-Präsident Clemens Prokop.

                Eine neue Förderstruktur reicht nach seiner Ansicht nicht, um Deutschland fit für den Konkurrenzkampf in der Weltspitze zu machen. „Ich glaube, mit mehr Geld kann man mehr machen. Da kann ich für die Leichtathletik sprechen“, sagte er.

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                  Bei den Peking-Spielen 2008 habe der DLV nur eine Medaille gewonnen. Danach habe sein Verband eine Erhöhung der Fördermittel erhalten und konnte sich schlagartig verbessern - auf acht Medaillen in London 2012. „Allerdings wäre es ein Irrglaube, die Mittel beliebig zu erhöhen und es kommt mehr Erfolg raus“, warnte Prokop. „Die Athleten sind keine Maschinen, in denen ich oben Geld reinwerfe und unten kommen Medaillen raus.“ Der DLV konnte es in Rio erleben: Da gewannen nur die Diskus- und Speerwerfer zusammen drei Medaillen.

                  Dabei dient vor allem ein Blick auf die Diskusentscheidung als Paradebeispiel für das olympische Yin und Yang der deutschen Athleten. Denn mit Sieger Christoph Harting gelang zwar eine faustdicke Gold-Überraschung. Doch gleichzeitig blieb diese streng genommen auch diesmal die einzige ihrer Art - und tröstete beim Ausfall des eigentlichen Gold-Kandidaten Robert Harting nur über eine noch größere Enttäuschung hinweg.