Die preisgekrönte Tänzerin sollte den einzigen Solotanz in der pompösen Olympia-Eröffnungszeremonie aufführen. Eine besondere Ehre, ein Traum für eine Tänzerin, der aber in einem Alptraum endete. Bei einer Probe zwölf Tage vor der Olympia-Feier fiel die 26-jährige Liu Yan von einer drei Meter hohen Plattform. Der Unfall wurde zunächst streng geheim gehalten.

Peking. Die Aussichten sind schlecht. Unterhalb der Brust spürt Liu Yan nichts mehr. Wahrscheinlich wird die chinesische "Ballett-Königin" für den Rest ihres Lebens querschnittsgelähmt bleiben. Drei Wochen nach ihrem tragischen Unfall bei den Proben für die Eröffnungsfeier kann die 26-Jährige im Krankenbett liegend nur am Fernseher die Olympischen Spiele verfolgen. Die Ärzte haben ihren Eltern gesagt, dass Liu Yan voraussichtlich nie wieder laufen wird. Optimistischer als die Lage erlaubt, gibt sich der Sprecher der Olympia-Organisatoren (BOCOG) Wang Wei: "Sie ist auf dem Wege der Besserung. Ob sie querschnittsgelähmt bleibt, lässt sich mit Sicherheit erst nach einem halben Jahr sagen."

Bei einer der zahlreichen Proben für die Eröffnungsfeier sprang die Tänzerin wie geplant auf eine drei Meter hohe Plattform, die - anstatt fest zu stehen - plötzlich seitlich nachgab. Yan stürzte rückwärts in die Tiefe auf ein Metallgerüst. Sie wurde sofort in ein Militärkrankenhaus gebracht, sechs Stunden lang operiert, erlitt aber Wirbelsäulen- und Nervenschäden, die möglicherweise irreparabel sind.

Hochgradig prekär an der Angelegenheit: Der Unfall wurde erst geheim gehalten. Eine andere Tänzerin übernahm den Auftritt zum Thema "Seidenstraße" in der spektakulären Inszenierung von tausenden Jahren chinesischer Geschichte mit 15 000 Darstellern. Niemand wusste so recht, was Starregisseur Zhang Yimou (Rote Laterne, House of Flying Daggers) meinte, als er noch in jener Nacht vor der Presse sagte: "Ich bedauere viele Dinge, viele Einzelheiten dieser Aufführung, vieles, was ich hätte besser machen können." Dann kam der erste, vage Hinweis. "Zum Beispiel gab es Darsteller, die verletzt wurden. Ich mache mir deswegen Vorwürfe. Es hätte vermieden werden können, wenn ich detailliertere Anweisungen gegeben hätte." Erst fünf Tage danach räumten die Olympia- Organisatoren auf Nachfrage den Unfall ein.

Die verletzte Tänzerin gab daraufhin vom Krankenbett heldenhafte Zitate für die staatlichen Medien: "Als Tänzerin bin ich um Olympia willen gestürzt. Ich bedauere nichts." Für die Fotografen zeigte Liu Yan mit beiden Händen jeweils ein Victory-Zeichen und lächelte tapfer in die Kameras: "Mein Leben wird in anderer Form wieder schön werden." Die einzige Tochter eines Richters und einer Ärztin war schon mit elf Jahren in die Mittelschule der Pekinger Tanzakademie aufgenommen worden. Es gibt wenig chinesische Auszeichnungen für Tänzer, die Liu Yan nicht gewonnen hat. Sie tanzte in diesem Jahr sogar in der Neujahrs-Gala des chinesischen Staatsfernsehens, in der nur die berühmtesten Künstler auftreten.

Als der Unfall bekannt wurde, priesen die Olympia-Organisatoren die große Tänzerin und ihr "nicht wieder rückgängig zu machendes Opfer" für die Olympischen Spiele. Regisseur Zhang Yimou besuchte Liu Yan im Krankenhaus und schenkte ihr ein Buch von der Eröffnung, in das er laut Presseberichten die Widmung schrieb: "Ich werde nie vergessen, wie Du tanzt" und "Du bist der größte Schmerz in meinem Herzen". Auch im Namen der anderen zwei führenden Regisseure der Inszenierung schrieb Zhang Yimou der gefallenen "Ballett-Königin", sie sei "unsere wahre Heldin" und "die Fee der Seidenstraße". Am Ende schrieb Zhang Yimou: "Wenn ich Dich eines Tages wieder stehen sehe, würde mir das mehr Freude schenken als jede Ehrung. Dieser Tag wird kommen, Liu Yan. Gib nicht auf, gib nicht auf!"