Rio de Janeiro. Der 31-Jährige hat einst das Zeitfahren dominiert. Jetzt ist er nur noch Außenseiter – und sucht nach Gründen.

Tony Martin hadert. Mit sich, mit dem Material, mit der Form. Warum ist er nicht mehr derjenige, an dem sich die anderen Radprofis im Zeitfahren orientieren? Warum läuft es seit knapp einem Jahr nicht mehr? „Ich suche nach Erklärungen“, sagte der 31-Jährige. Und fügte vor dem olympischen Kampf gegen die Uhr am Mittwoch (15 Uhr MESZ) fast schon fatalistisch hinzu: „Das ist jetzt eine Talsohle, die jeder Sportler mal durchlebt. Ich muss akzeptieren, dass ich nicht absolute Weltspitze bin.“

Dass der Lebenstraum Olympiasieg sich auch in Brasilien wohl nicht erfüllt, hat Martin schon im vergangenen September realisiert, als er mit Lisa Brennauer die sehr berglastige Strecke erstmals in Augenschein nahm. Brennauer hofft, von Martins wertvollen Tipps zu profitieren, wenn sie kurz vor ihm (13.30 Uhr MESZ) ihren eigenen Hoffnungen auf eine Medaille nachjagt. Doch der große Meister von einst ist mittlerweile abgehängt.

Trotzdem hofft der dreimalige Zeitfahrweltmeister auf eine Medaille. Zwar nicht auf die goldene, dafür hält er „die großen Bergfahrer“ Christopher Froome (Großbritannien) und Tom Dumoulin (Niederlande) auf dem anspruchsvollen Kurs mit einigen Steigungen für zu stark. „Sie haben bei der Tour de France gezeigt, dass sie die großen Favoriten sind“, sagte Martin.

Aber der Kampf um Platz drei sei offener. „Da rechne ich mir Chancen aus.“ Zumal das lädierte Knie beim Straßenrennen, das er am Sonnabend als Training für seine Spezialdisziplin genutzt hatte, keine Probleme mehr bereitete. „Das Knie hat drei Stunden lang gehalten“, bilanzierte Martin nach der Hatz durch Rio de Janeiro.

Was aber, wenn es wie bei Tour de France, als er bei den Zeitfahren chancenlos war, wieder eine Enttäuschung gibt? „Wenn der Worst Case eintritt, muss ich halt vier Jahre warten“, sagte Martin.

Auch ohne Medaille wären die Spiele in Rio ein grandioses Ereignis. „Ich genieße das hier. Das sind Eindrücke fürs Leben“, betonte der Wahlschweizer, der auch kleinere Pannen mit Humor nimmt. So twitterte er am Wochenende mit einem Smiley: „Kein Strom in unserem Haus, und der Fahrstuhl funktioniert nicht mehr. Nicht einfach, bis in den 17. Stock hochzulaufen, aber ich habe es geschafft.“

Eines ist für den gebürtigen Lausitzer klar: So schwach wie jüngst in Frankreich will er sich auf der 54,6 Kilometer langen Schleife mit Start und Ziel am Atlantik nicht präsentieren. Die Zeitfahren bei der Tour hätten für ihn keine große Aussagekraft, sagte Martin. „Ich denke, dass ich diesmal besser performen kann.“ Und falls nicht, hat er bereits die Sommerspiele 2020 im Hinterkopf, die er dann 35-jährig in Angriff nehmen würde: „Ich hoffe, dass es in Tokio nicht so viele Berge gibt.“

Martins Kampfgeist ist ungebrochen

Die Rundstrecke in Rios Stadtbezirk Barra/Pontal, die bereits Teil des gnadenlosen und viel diskutierten Straßenrennens war, ist so gar nicht auf den Tempobolzer Martin zugeschnitten: Gleich vier schwierige Anstiege sind zu bewältigen. Dazu könnten unberechenbare Winde und vielleicht auch Regen das Rennen beeinflussen.

„Wunder darf man nicht erwarten, die Zeitfahren waren für ihn das ganze Jahr nicht ideal“, sagte Jan Schaffrath. Er betreut Martin auch beim Profiteam Etixx-Quick Step als sportlicher Leiter. Aber die außergewöhnliche Streckenlänge könnte sich durchaus als Vorteil für seinen Schützling erweisen: „Es wird ein Kräftezeitfahren, das ist grenzwertig. Vielleicht knicken andere weg. Man muss sich das Rennen wirklich gut einteilen, und darin hat er eine Riesenerfahrung.“

Martins Kampfgeist ist trotz der jüngsten Rückschläge ungebrochen. Und dies, obwohl er seit seinem Fiasko bei der WM im September 2015 in Richmond (USA) seiner Form hinterherfährt. Damals verpasste er als Topfavorit sein viertes Zeitfahr-Gold, mit dem er mit Schweizer Rekordweltmeister Fabian Cancellara gleichgezogen hätte, und wurde Siebter. Danach hagelte es häufig Enttäuschungen – so auch bei der Tour.

Was genau zum Leistungsabfall führte, kann Martin selbst nicht so recht nachvollziehen. „Ich tue das nicht einfach so ab“, betonte der Wahlschweizer, der seit Monaten an Material und Position tüftelt – und doch die Lösung noch nicht gefunden hat.

Eines aber kann Tony Martin versichern: „Ich habe weiter Lust auf das Zeitfahren. Ich werde kämpfen, um an das alte Niveau wieder heranzukommen.“ Und dann wäre er auch wieder absolute Weltspitze.