Der neue Trainer der HSV-Handballer braucht für den Umbruch Zeit. Ein Sieg heute in Balingen würde ihm helfen

Hamburg. Es sind beschauliche Tage wie diese im kurzen Trainingslager im Südwesten Deutschlands, in denen den Profis des Handball-Sport-Vereins Hamburg noch mal bewusst wird, was ihr Club in der Vergangenheit Großes geleistet hat. Sonntag in Büttelborn und seit Montag in Flein wurde der HSV bei seinen Auftritten als Champions-League-Sieger des Jahres 2013 und deutscher Meister von 2011 gefeiert.

An diesem Mittwochabend kehrt die Mannschaft beim HBW Balingen-Weilstetten in die Gegenwart zurück. Die ist brutal. Da sind nach einem schwierigen Saisonstart nicht nur diese 2:6 Punkte, die drohen, aus dem Meisterschaftsmitfavoriten der vergangenen neun Jahren einen Abstiegskandidaten zu machen; vielmehr scheint in der Handballszene jenes unwürdige Schauspiel unvergessen, als der HSV im Mai und Juni erst vergebens in dritter und letzter Instanz dann doch erfolgreich um die Bundesligalizenz kämpfte.

Zum ersten Mal müssen die Hamburger auswärts auf Unterstützung verzichten. Kein HSV-Fan reist heute an den Fuß der schwäbischen Alb. Und dass die Mannschaft in der Balinger SparkassenArena frostig empfangen werden dürfte, ahnt jeder beim HSV, seit bei der Suche nach einem Quartier das Hotel Stadt Balingen ausrichten ließ, dass der Verein nicht mehr willkommen sei. Verstehen muss man das nicht. Es waren allein die bis zum 1. Juli andauernden Turbulenzen um die Lizenzvergabe, die den sportlich abgestiegenen Balingern die Chance eröffneten, über eine gerichtliche Verfügung in der Liga zu bleiben. Und mit jetzt 5:3 Punkten und einem 22:21-Sieg über Meister THW Kiel steht der Club heute besser da als je zuvor nach vier Spieltagen.

Während es Balingens Trainer Markus Gaugisch, 40, gelungen ist, zehn Neuzugänge schnell zu integrieren, hakt beim HSV das Zusammenwirken alter und neuer Kräfte. Das hat neben dem Weggang von sechs Weltklassespielern damit zu tun, dass der Club später als alle anderen in die Vorbereitung einstieg und mit Alexandru Simicu und Richard Hanisch die letzten beiden Verpflichtungen für den unterbesetzten Rückraum erst kurz vor dem ersten Wurf eintrafen. Während Simicu mit Bänderzerrung im Fuß zwei Wochen ausfällt, deutete Hanisch sein Potenzial als Spielmacher schon mal an.

An Trainer Christian Gaudin, 47, darin sind sich alle im HSV einig, liegt es nicht, dass die Mannschaft unter ihren wohl noch immer überdurchschnittlichen Möglichkeiten bleibt. Der sympathische Franzose dürfte selbst dann nicht zur Disposition stehen, falls die Auftritte in Balingen und am Sonnabend (15 Uhr, O2 World) gegen Wetzlar nicht den ersten Saisonsieg bringen.

Gaudin arbeitet unermüdlich an Trainingsplänen, Techniken und Taktiken, wertet Videos akribisch aus, legt auf Kommunikation größten Wert. Mehr als eine Stunde dauerte am Montag die nur für 15 Minuten angesetzte Aufarbeitung der ersten Halbzeit vom vergangenen Sonnabend gegen die Rhein-Neckar Löwen, als der HSV nach 30 Minuten Standhandball mit 8:17 aussichtslos zurücklag. Dass die Niederlage im Frankfurter Fußballstadion am Ende mit 26:28 glimpflich ausfiel, hat mit der Leistungssteigerung in der zweiten Hälfte zu tun, die der Mannschaft bereits in den Heimspielen gegen Kiel (19:20) und Hannover-Burgdorf (23:23) nach den Seitenwechseln gelang.

Gaudin bittet um Geduld, weist auf Fortschritte hin, stellt aber klar: „Ich bin geholt worden, um beim HSV eine Mannschaft mit Perspektive zu formen, die bezahlbar wird. Ich habe einen Plan, brauche aber Zeit. Namen, Verdienste spielen für mich keine Rolle, es geht um das Ziel. Wenn der Verein mir auf meinem Weg nicht mehr folgen will, habe ich kein Problem. Dann gehe ich.“

Der Umbruch scheint besonders schwierig, weil es nicht nur um den Austausch von Spielern, eben auch um einen Mentalitätswechsel geht. Konnte sich der HSV früher in kritischen Situationen auf die Klasse seines Welthandballers Domagoj Duvnjak verlassen, auf über Jahre einstudierte Abläufe in Angriff und Abwehr, fehlen dem neu formierten Team noch diese Lösungen. Die Leichtigkeit des Spiels ist dem HSV dabei verloren gegangen, die Einsicht, allein über den Kampf zum Erfolg zurückfinden zu können, bisher nicht bei allen angekommen – obwohl das Bemühen bei jedem spürbar ist. Um verstärkt Emotionen ins Team zu tragen, das ist möglicherweise noch eine Schwäche Gaudins, fehlen dem Franzosen in der Hektik manchmal die deutschen Worte.

Hinzu kommt: Kapitän Pascal Hens, 34, zahlt den Preis für jahrelangen Verschleiß, gegen die Rhein-Neckar Löwen musste er nach Hüftproblemen frühzeitig vom Feld. Der Halbrechte Adrian Pfahl, 32, ist jemand, der viele Tore werfen kann, dem es mit seiner zurückhaltenden Art schwerfällt, sein Team mitzureißen. Spielmacher Kentin Mahé, 23, muss nun beweisen, dass er eine Mannschaft führen kann. Seine jüngsten Leistungen lassen hoffen, dass der Franzose diese Rolle ausfüllen kann. Johannes Bitter, 32, wiederum, die derzeit größte Autorität im Team, steht im Tor und damit oft abseits.

Wie viel Zeit dem HSV und seinem Trainer bleiben, um Ergebnisse zu liefern, ist bei der bekannten Ungeduld des Umfeldes ungewiss. Das Warten auf Gaudin dürfte trotz des Vertrauens in dessen Fähigkeiten nicht endlos sein. Der couragierte Heimauftritt gegen Kiel hat dem Team beim Publikum neuen Kredit verschafft, für das Spiel gegen Wetzlar wurden neben den 3700 Dauerkarten dennoch erst 1200 weitere Tickets verkauft; zu wenig, um den angestrebten Zuschauerschnitt von 6500 und kalkulierte Einnahmen von zwei Millionen Euro zu erreichen. Nichts wäre nun schädlicher, wenn im HSV in der jetzigen Konsolidierungsphase erneut eine Diskussion über Löcher im Etat ausbrechen würde. Ein Sieg in Balingen könnte da beruhigend wirken.