Nach dem Auftritt in Berlin stellt Präsident Matthias Rudolph den Spielern die Charakterfrage und kündigt Personalgespräche an.

Hamburg. Als Matthias Rudolph am Mittwochabend die Gästekabine in der Berliner Max-Schmeling-Halle betrat, hatte er eine einfache Frage an die Mannschaft: "Wollt ihr weiterhin ein Teil des HSV Handball sein oder nicht?" Statt einer Antwort gab es nur betretenes Schweigen. Die 60 Spielminuten zuvor waren allerdings Aussage genug. Nimmt man die beklagenswerte Leistung der 27:37-Niederlage bei den Füchsen Berlin zum Maßstab, so haben einige die präsidiale Gretchenfrage für sich offenbar mit einem klaren Nein beantwortet.

Aus einer verschworenen, harmonischen Gemeinschaft ist eineinhalb Jahre nach dem Titelgewinn ein Puzzle von Einzelspielern geworden, die zwar jeder für sich immer noch viel können, aber offenbar nicht mehr miteinander. Nach Minuspunkten (12) ist der Meister von 2011 auf den achten Platz der Bundesliga abgestürzt. Und es gibt keinen Teil mehr in dieser Mannschaft, keinen Charakter, der willens und in der Lage zu sein scheint, den freien Fall aufzuhalten. Der Angriff? Fehlerhaft und führungslos. Die Abwehr? Unmotiviert und nicht aufeinander abgestimmt. Die Torhüter? Hätten bei insgesamt zwei Paraden auch gleich in Hamburg bleiben können.

"Wir sind auf einem Tiefpunkt angelangt, tiefer geht es eigentlich nicht", sagt Rudolph. Die Sorgen des Präsidenten ziehen längst größere Kreise als um die Frage, ob es am Ende der Saison noch einmal mit Ach und Krach für einen Champions-League-Platz reicht oder nicht. Rudolph sagt: "So machen wir unser ganzes Produkt kaputt." Schon bewegen sich die Zuschauerzahlen proportional zur sportlichen Entwicklung: stetig abwärts. Der Besucherschnitt droht erstmals seit vier Jahren unter 10.000 zu fallen. Dabei werden die Einnahmen aus dem Kartenverkauf angesichts des Sparkurses mehr denn je gebraucht. Und neue Sponsoren, auch sie dringend gesucht, lassen sich derzeit nur schwer für den HSV begeistern.

Der desolate Auftritt in Berlin war der dritte innerhalb eines Monats. Auch bei den Niederlagen gegen die Rhein-Neckar Löwen (23:30) und in Göppingen (26:34) fand der HSV erst zu sich selbst, als das Spiel bereits verloren war.

Das ist eine neue Qualität oder, besser, eine neue Schwäche dieser Mannschaft. Noch Ende Oktober gegen den THW Kiel war sie nach ansprechender Leistung erst in der Schlussphase eingebrochen, aber das war mit schwindenden Kräften und der veränderten Taktik eines starken Gegners noch hinreichend erklärbar. In Berlin aber konnte keine Detailbetrachtung mehr überdecken, dass das Gesamtbild HSV nicht mehr stimmig ist.

Rudolph scheint gewillt, den Umbruch, der sich für das Saisonende abzeichnet, notfalls auf die WM-Pause im Januar vorzuziehen: "So geht es jedenfalls nicht weiter. Jeder muss sich überprüfen, was er für die Gruppe zu geben bereit ist." Trainer Martin Schwalb sei dabei ausdrücklich eingeschlossen. Seine erstaunlich verhaltenen Appelle an die Spieler, in der Abwehr doch bitte ein wenig Aggressivität und Leidenschaft an den Tag zu legen, verhallten scheinbar ungehört. Sollte nicht schnell eine Wende zum Besseren gelingen, könnte Schwalbs zweite Amtszeit ein jähes Ende finden. Er war im März nur widerwillig vom Präsidenten- wieder ins Traineramt zurückgewechselt. Den sportlichen Abschwung konnte er nicht aufhalten, schon weil die Olympischen Spiele und viele Verletzungen ihm die Vorbereitung der Mannschaft auf die Saison enorm erschwerten. Im Fanforum wird bereits nach einem "Peter Zwegat des Handballs" gerufen, "der die marode Truppe wieder auf Vordermann bringt". Mit kühlen Rechenspielen allein aber wird sich die Rückkehr in die Gewinnzone nicht schaffen lassen.

Das spielfreie Wochenende will Rudolph dazu nutzen, um intensive Personalgespräche zu führen. Von der Spiel- und Charakterstärke der Meistersaison ist der HSV weit entfernt, obwohl die Belegschaft zu wesentlichen Teilen die gleiche ist - oder gerade deswegen? Einigen in die Jahre gekommenen Profis scheint es an der nötigen Motivation ebenso zu fehlen wie an der Kraft, um sich alle drei Tage von der besten Seite zu zeigen. Schwalb sagt: "Wenn nicht alle ihr Topniveau erreichen, reicht es in unserer dünnen Besetzung eben nicht für Berlin."

Vier der fünf Bundesligavergleiche mit Mannschaften, die vor dem HSV liegen, gingen verloren. Nur gegen Flensburg-Handewitt reichte es zu Hause zu einem glücklichen Unentschieden.

Am kommenden Mittwoch muss der HSV im Achtelfinale des DHB-Pokals beim Zweitligisten TV Emsdetten antreten. In der prekären Situation ist das mehr denn je eine Pflichtaufgabe. Aber auch sie könnte diesen HSV überfordern. "Mit der Leistung von Berlin", sagt Rudolph, "verlieren wir auch in Emsdetten."