Der augenblickliche Absturz ins Mittelmaß hat vor allem eine Ursache: Die einstigen Leistungsträger der Hamburger fallen zu oft aus.

Hamburg. Wenn die treuen Anhänger der HSV-Handballer, und von ihnen gibt es weiter sehr viele, in diesen Tagen ihre Mannschaft in der Tabelle suchen, müssen sie die gelernte Region verlassen. Der deutsche Meister des vergangenen Jahres ist ungefähr wieder dort angekommen, wo ihn Trainer Martin Schwalb im Oktober 2005 einst übernahm: im gehobenen Mittelmaß. Der Blick auf abseitige Ranglisten könnte die Ursachen des momentanen Abstiegs erklären. Die Hamburger stellen mit elf von 18 Spielern in ihrem Profikader, die über 30 Jahre alt sind, das erfahrenste und auch das verletzungsanfälligste Team der Bundesliga. Keine Mannschaft beklagte in den vergangenen 15 Monaten derart viele Ausfälle.

Die Verletztenakte (siehe Grafik rechts) führt der Schwede Oscar Carlén an. Im Zeitraum von Ende August 2011, dem Beginn der vergangenen Serie, bis heute konnte das Rückraum-Ass keines der 70 Pflichtspiele des HSV in Meisterschaft (45), Champions League (18), Pokal (6) und Supercup (1) bestreiten. Nach zwei Kreuzbandrissen hofft der 24-Jährige jetzt auf seinen ersten Einsatz im Februar 2013. Carlén hätte dann insgesamt zwei Jahre lang pausiert.

Während Carléns Ausfälle in die Kategorien Pech und Schicksal einzuordnen wären, sind die Fehlzeiten der älteren Kollegen zum größten Teil Verschleiß und Überbelastung geschuldet - dem spielerverachtenden System Profihandball. Dass sich deren Abwesenheiten derzeit häufen, hat in der zurückliegenden Periode mit ihrer extremen Beanspruchung zu tun. Seit der Saisonvorbereitung im Juli 2011 hatte ein wesentlicher Teil der HSV-Mannschaft keinen angemessenen Urlaub. Zu den Einsätzen im Verein kamen für die Nationalspieler weitere rund 30 Auftritte für ihre Heimatländer. Die Europameisterschaft im Januar dieses Jahres in Serbien und die Olympischen Spiele im Juli und August im London verhinderten ein Regenerieren und Aufladen der Ressourcen. Und es wird nicht besser. Im Januar werden erneut sechs HSV-Spieler bei der Weltmeisterschaft in Spanien auflaufen. Allein Kreisläufer Igor Vori, 32, hat sich auf Anraten Schwalbs Schonung verordnet und steht seinen Kroaten diesmal nicht zur Verfügung. Pascal Hens wiederum hatte nach der EM in Serbien seinen Rücktritt aus der deutschen Nationalmannschaft erklärt.

Die ständigen Verletzungen von Stammspielern führen zudem zu einer Überforderung der noch gesunden Kräfte. Spielmacher Domagoj Duvnjak, 24, können aufgrund der wiederholten Ausfälle im Rückraum (Pascal Hens, 32, Blazenko Lackovic, 31, Michael Kraus, 29, Marcin Lijewski, 35) deshalb kaum Pausen gegönnt werden. Das war einmal anders geplant. Als der HSV sich über die Jahre mit dem THW Kiel um die Meisterschaft duellierte, war jede Position doppelt gut besetzt. Das machte die Klasse des Teams mit aus - und eröffnete Schwalb im Training wie im taktischen Bereich größere Spielräume. Einzig Rechtsaußen und Top-Torjäger Hans Lindberg, 31, scheint die Terminhatz wenig auszumachen; zum Leidwesen Stefan Schröders, der selbst bei guter Gesundheit 28-mal seit August 2011 zuschauen durfte.

Kurzfristig wird der HSV auf seine Verletztenmisere nicht reagieren können. Die Kassen sind leer, aus der vergangenen Saison wurde ein höherer sechsstelliger Fehlbetrag in die neue Spielzeit mitgenommen, im laufenden Acht-Millionen-Euro-Etat fehlt rund eine Million. Der ehemalige Präsident Andreas Rudolph, Mehrheitsgesellschafter der Spielbetriebs-GmbH und weiter für den Verein aktiv, muss wie in der Vergangenheit Liquiditätsengpässe überbrücken. Bleibt die Hoffnung auf schnelle Genesung der Kranken und Lahmen - und auf die nächste Saison. Die Neuzugänge Andreas Nilsson, 22, Fredrik Petersen 29, Stefan Terzic, 18, und Max-Henri Herrmann, 18, haben das Potenzial, den HSV in höchste Regionen zurückzuführen.