St. Pauli besiegt sich beim 1:2 bei 1860 München mit grotesken Fehlern selbst. Trainer Ewald Lienen denkt noch nicht ans Aufgeben.

München/Hamburg. Da standen sie in den Katakomben der Allianz-Arena und versuchten das Unerklärbare zu erklären. Doch im Grunde war jede Erklärung überflüssig. Zu offensichtlich waren die Fehler, mit denen sich der FC St. Pauli die 1:2-Niederlage im Kellerduell bei 1860 München mit fast schon masochistischen Zügen zugefügt hatte. Sie versuchten Worte zu finden für einen Spielverlauf, der mit den Zuschreibungen absurd oder grotesk nur annähernd bezeichnet werden konnte.

Die Stadionuhr zeigte Minute 57 an, als der Münchner Gary Kagelmacher den ersten Torschuss seiner Mannschaft abgegeben hatte. Aus psychologischer Sicht war die Partie für St. Pauli zu diesem Zeitpunkt aber längst gelaufen. Und verstehen konnte so recht niemand, wie es insbesondere zu zwei spielentscheidenden Situationen kam, die sich an nahezu demselben Grashalm des 10.0000 Quadratmeter großen Münchner Rasens ereigneten. Sportchef Thomas Meggle sprach von einem „Wackelfuß“. Trainer Ewald Lienen benutzte den Ausdruck der „Unsicherheit“. Dazu später mehr.

Zehn Minuten war das Spiel zwischen dem Tabellenvorletzten und dem Tabellenletzten alt, als sich St. Paulis Rechtsverteidiger Andrej Startsev bei einem langen Ball verschätzte und diesen derartig unterlief, dass der Münchner Jannik Bandowski bei der Vorbereitung seiner Flanke so viel Zeit bekam, dass er noch mühelos einige Hände der 25.100 Zuschauer hätte schütteln können. Nicht weniger Zeit hatte St. Paulis Kapitän Sören Gonther, als die Flanke schließlich in den Strafraum der Hamburger flog. Vielleicht war es ein bisschen zu viel Zeit, denn Gonther konnte sich gedanklich auf seine Abwehraktion vorbereiten.

Was er in dieser Szene gedacht hat, konnte er nach dem Spiel auch nicht genau erklären. Sicher zu belegen ist, dass Gonther den Ball nahezu unbedrängt aus fünf Metern in das eigene Tor beförderte. 0:1. Nach zehn Minuten. Der gesamte Matchplan von Ewald Lienen, dominant sein, defensiv gut stehen, war durchkreuzt. „So etwas darf mir nicht passieren, für die Mannschaft tut mir das sehr leid“, sagte Gonther.

Lienen kritisiert pomadige erste Hälfte


Nach einem klassischen Fehlstart in das Spiel hatte St. Pauli sogar Glück, dass die Löwen unter ihrem neuen Trainer Torsten Fröhling nicht schon in der ersten Minute in Führung gingen. Doch Krisztian Simon fiel aus unerfindlichen Gründen auf seinem freien Weg Richtung Robin Himmelmann im Strafraum um. Nur eine Minute später hätte Lennart Thy nach schöner Vorarbeit von Marc Rzatkowski der Geschichte des Spiels eine andere Dramaturgie geben können, doch sein Kopfball aus fünf Metern flog rechts am Tor vorbei. Der Rest der ersten Halbzeit waren die von Fröhling schon vor dem Spiel angekündigten Unsicherheiten auf beiden Seiten.

„Wir haben in der ersten Halbzeit viel zu langsam gespielt“, sagte Lienen, der auf seinem Zettel nur noch eine gute Chance durch Rzatkowski (25.) notieren konnte. Immerhin. Sein Gegenüber Fröhling hatte gar keine Torszene aufzuschreiben.

Kurz nach der Halbzeit folgte schließlich die zweite Schlüsselszene des Spiels. St. Pauli kam wie verwandelt aus der Kabine, die Sechser Dennis Daube und Julian Koch waren plötzlich als erste Anläufer auf den neuen 1860-Torwart Vitus Eicher unterwegs. Und nach einer schnellen Kombination über Koch und Christopher Nöthe, der den Vorzug vor John Verhoek bekommen hatte, landete der Ball schließlich vor den Füßen von Thy. Dieselbe Stelle wie vor dem 0:1. Die gleiche Zeit zur Vorbereitung.

„Schwer zu erklären, wie wir dieses Spiel verlieren konnten“


Die gleiche Zeit zum Nachdenken. Vielleicht dachte Thy an eine Szene aus seiner Bremer Zeit, als er in seinem zweiten Bundesligaspiel von Beginn an in Leverkusen aus fünf Metern das leere Tor verfehlte. Zumindest schaffte der 22-Jährige erneut das Kunststück, den Ball aus fünf Metern nicht über die Linie zu drücken, sondern an den Außenpfosten (52.). Später vergab Thy noch eine weitere Großchance, genau wie Ante Budimir (76.) und Dennis Daube (89.) Die Torschussstatistik zählte am Ende 17:3 Schüsse für St. Pauli. „Das spricht Bände und ist in dieser Form neu“, sagte Sportchef Meggle.

Und so endete die Geschichte, wie sie im Fußball schon so häufig zu Ende ging. Mit der ersten wirklichen Torchance schafften erschreckend harmlose Münchner das 2:0, als der eingewechselte Marius Wolf aus kurzer Distanz einköpfte (72.). Immerhin gelang Christopher Nöthe noch der Anschluss – das erste Stürmertor des FC St. Pauli in diesem Kalenderjahr (77.).

„Es ist schwer nachzuvollziehen, wie wir dieses Spiel verlieren konnten“, sagte Ewald Lienen, der während des Spiels an der Seitenlinie schier verzweifelte. Aus den drei Duellen gegen direkte Abstiegskonkurrenten nach der Winterpause hat Lienen nur einen Zähler geholt. An Aufgeben denkt der 61-Jährige aber nicht im Ansatz. Im Gegenteil. „Für mich geht der Überlebenskampf jetzt erst richtig los. Wir müssen jetzt Charakter beweisen“, sagte Lienen. „Wenn das Millerntor zusammenbricht, dann würde ich nach Hause gehen.“

Am Millerntor steht am kommenden Sonntag gegen den FC Erzgebirge Aue das vierte Nervenspiel in Folge an. Meggle brachte es auf den Punkt. „Wer zuerst die Nerven verliert, steigt ab.“