St. Paulis Aufsichtsratsvorsitzende Sandra Schwedler spricht über die größten Herausforderungen für den Kiezclub und ihre Vorreiterrolle im Fußball

Hamburg. Seit der Jahreshauptversammlung am 16. November ist Sandra Schwedler, 34, im Aufsichtsrat des FC St. Pauli. Obwohl sie im Rahmen eines Fan-Projektes bei der Wahl im CCH nicht anwesend sein konnte, erhielt sie bei der Wahl mit 558 die meisten Stimmen aller 16 Bewerber für die sieben Posten. Bei der konstituierenden Sitzung wurde die Senior Account Managerin einer großen Digitalagentur (SinnerSchrader) auch zur Vorsitzenden des Kontrollgremiums gewählt. Dies gab es im deutschen Profi-Fußball erst einmal, ebenfalls beim FC St. Pauli, als Tatjana Groeteke Aufsichtsratschefin wurde. Sandra Schwedler ist aber nicht nur deshalb eine interessante Persönlichkeit. Im Gespräch mit dem Abendblatt sagte sie jetzt über ...

... ihr erstes Spiel beim FC St. Pauli: „Das war im Jahr 1994. In meiner Schulklasse sind viele zum Fußball gegangen. Ich wollte das dann auch einmal. Eine Handball-Mitspielerin von mir hatte eine Freundin, die schon mal bei St. Pauli war. Deshalb sind wir dann auch ins Millerntor-Stadion gegangen. St. Pauli spielte 2:2 gegen Leipzig und stand danach relativ weit unten in der Tabelle. Ich kam danach nach Hause und sagte meinen Eltern: Ich hätte gern eine Dauerkarte. Die haben gesagt, dass sie erst einmal abwarten wollten. Vorher wollte ich auch schon einmal einen Hund haben oder Leichtathletik betreiben, was dann nicht sehr lange angedauert hat. Zum Nikolaus habe ich dann aber die Rückrunden-Dauerkarte bekommen. Kurz danach habe ich dann festgestellt, dass man auch zu Auswärtsspielen fahren kann. Da habe ich meinen Eltern dann abgerungen, dass ich zum Pokal-Viertelfinalspiel nach Kaiserslautern fahren durfte. Vorher war ich sogar noch beim Punktspiel in Wolfsburg.“

.. .die eigene, aktive Fußballerfahrung: „Ich bin fußballerisch total unbegabt. Ich kann besser darüber reden als selbst spielen. Ich spiele aber seit meinem zehnten Lebensjahr Handball – und seit mehr als 15 Jahren beim FC St. Pauli als Rechtsaußen, obwohl ich keine Linkshänderin bin.“

... den Beginn ihres ehrenamtlichen Engagements als Fan: „Durch die vielen Spiele und vor allem die Auswärtsfahrten habe ich viele Leute kennengelernt. Am Anfang waren meine Themen, für Stimmung zu sorgen, Fahnen ins Stadion zu bringen und Choreografien zu organisieren. Schnell habe ich dann gemerkt, dass sich immer mehr änderte. Es gab immer mehr Auflagen und Restriktionen, insbesondere bei Auswärtsspielen. Früher konnten wir vor den Spielen noch in die Stadt gehen und uns mit anderen Fans treffen. Jetzt wird man am Bahnhof schon von der Polizei empfangen. Das sind Themen, die das Fan-Dasein belastet haben. Damit habe ich mich beschäftigt. Ein anderes Thema waren und sind die unterschiedlichen und oft spät festgelegten Anstoßzeiten. Das war ein Anlass, mich auch bundesweit im Bündnis ,Pro 15.30’ und ,ProFans‘ zu engagieren – unter anderem dort auch als Vertreterin in der AG Fanbelange von den Verbänden“

... die Konzentration auf die neue Aufgabe: „Die Projekte, die ich bisher gemacht habe, muss ich jetzt abgeben. Beides geht aus Zeitgründen nicht mehr. Das war auch der Grund, warum ich rund sechs Monate überlegt habe, ob ich für den Aufsichtsrat kandidieren soll. Ich habe wirklich lange mit mir gerungen und mich erst kurz vor Bewerbungsschluss entschieden.

... die Botschaft, gewählt worden zu sein: „Ich habe das vor dem Stadion von Internacional in Porto Alegre erfahren und war doch überrascht. Weil ich nicht im CCH sein konnte, hatte ich nicht unbedingt erwartet, gewählt zu werden und schon gar nicht mit den meisten Stimmen. Es zeigt mir, dass die Mitglieder großes Vertrauen in mich setzen.“

... die Wahl innerhalb des Aufsichtsrates zur Vorsitzenden: „Weil ich die meisten Stimmen bekommen habe, bin ich gefragt worden, ob ich mir das vorstellen könnte. Ich habe dann gefragt, ob das als Neuling im Aufsichtsrat überhaupt sinnvoll ist. Das wurde bejaht, dann wurde ich gewählt.“

... die nötigen Qualitäten, um ein guter Aufsichtsrat zu sein: „Von einem guten Aufsichtsrat hört man nichts. Wir sind dafür da, das Präsidium zu begleiten, zu unterstützen, zu kontrollieren und zu prüfen, ob die getroffenen Entscheidungen im Sinne des Vereins sind. Das operative Geschäft ist für uns tabu.“

... die größten Herausforderungen zu Beginn der Amtszeit: „Zunächst einmal ist es eine Herausforderung für mich, die ganzen Abläufe und einzuhaltenden Formalien kennenzulernen. Dazu haben wir eine besondere sportliche Situation. Und wir müssen uns über die konkrete Zusammenarbeit mit dem Präsidium verständigen.“

... den Spagat, gleichzeitig Fan und Funktionär zu sein: „Ich bin ja nicht nur Fan sondern auch Mitglied in einer sporttreibenden Abteilung. Das heißt, dass ich nicht nur die Fußballseite im Blick habe sondern den gesamten Verein. Ich denke, es geht allen Aufsichtsratsmitgliedern um den gesamten Verein.“

... die fachliche Kompetenz für die Aufgabe im Aufsichtsrat: „In meinem Beruf habe ich viel mit Budgetverwaltung, Angeboten, Verträgen, Planung und Analyse zu tun. Dazu habe ich mich im Rahmen meines Fan-Engagements auch mit vielen Rechtsgrundlagen befasst, also etwa dem Rahmenvertrag zwischen DFB und DFL sowie mit der Sportgerichtsbarkeit. Dazu haben wir im Aufsichtsrat auch Juristen und Finanzexperten und stets die Möglichkeit, externe Berater dazu zu holen.“

... die Rolle als Frau im Aufsichtsrat: „Ich habe auch schon bei der Fanarbeit, wo es auch nur wenige Frauen gibt, nie gefragt, ob ich als Frau etwas machen darf oder kann. Darüber habe ich nie nachgedacht, sondern einfach gemacht. Ich hatte auch nie das Gefühl, dass ich nicht ernst genommen werde oder mehr machen muss als ein Mann. Aber man muss sich fragen, warum auch beim FC St. Pauli bisher so wenige Frauen für Ämter kandidiert haben.“

... die eigene Vorreiterrolle in dieser Hinsicht: „Es wäre sicher schön, wenn in vier Jahren mehr Frauen für den Aufsichtsrat oder auch andere Positionen kandidieren.“

... die Art und Weise, Spiele des FC St. Pauli zu verfolgen: „Ich werde weiter wie bisher auf der Gegengeraden stehen. Das bleibt mein Platz. Ich war auch in Bochum im Stehplatzblock. Ansonsten habe ich noch nicht darüber nachgedacht, ob ich mich beim Spiel jetzt anders verhalten muss, weil ich eine gewisse Verantwortung habe. Ich finde es wichtig, authentisch zu bleiben.“

... die Vereinskultur: „In den Gesprächen mit Fans im Ausland habe ich immer wieder festgestellt, dass viele neidisch sind auf unsere Vereinskultur und die Mitgliederbestimmung in Deutschland. Dieser Kern ist ungeheuer wertvoll, deshalb müssen wir ihn weiter stärken.“

... die zunehmende Kommerzialisierung: „Wir sind in Deutschland gerade am Scheideweg. Einige Clubs schauen nur noch darauf, möglichst viel Geld zu generieren. Wir müssen darauf achten, dass sich weiter jeder den Besuch beim Fußball leisten kann und es keine Entwicklung wie in England gibt.“

... Lieblingsspieler als Fan: „Ich war sogar mal Fan von Bernd Hollerbach, bis er dann beim anderen Verein in Hamburg auftauchte. Aber ein Trikot mit Spielernamen hatte ich nie, dafür ganz viele ohne Namen und auch Autogramme.“

... die Nähe von Präsidium und Aufsichtsrat: „Gerade weil sehr viele Mitglieder beider Gremien aus dem gleichen Umfeld des Vereins kommen, werden wir noch einmal genauer und schärfer hinschauen, wenn wir bei anstehenden Entscheidungen derselben Meinung sind. Oder wir werden auch externe Meinungen hinzuziehen. Wir sind uns des möglichen Problems bewusst.“

... die wichtigsten Aufgaben für die kommenden Jahre: „Wir haben in Hamburg und vor allem im Stadtteil St. Pauli zu wenige Sporthallen und Anlagen. Wir können unseren Mannschaften in den verschiedenen Abteilungen nicht genügend Trainingszeiten anbieten. Im Profifußball gilt es für uns derzeitig einzig und allein, die Klasse zu halten. Generell wird es aber darauf ankommen, sich als Verein gegenüber den Kapitalgesellschaften klar zu positionieren. Ich bin sicher, dass es künftig auch noch für reine Vereine möglich sein wird, in der Bundesliga zu spielen.“