Pauli-Trainer Stanislawski gibt dem Torhüter ausgerechnet im Derby eine Chance - mit Erfolg. Gegen seinen Ex-Klub spielte Pliquett groß auf.

Hamburg. Als der Derbysieg mit dem Abpfiff besiegelt war, entlud sich die ganze Anspannung in einigen explosionsartigen Hüpfern, dann fiel Holger Stanislawski KaPe Nemet in die Arme. Es mag Zufall gewesen sein, dass sich der Chefcoach seinen langjährigen Freund als ersten Jubelpartner auswählte. Gut möglich aber auch, dass er es ganz bewusst tat. Nemet ist Torwarttrainer beim FC St. Pauli und als dieser eben auch verantwortlich für einen gewissen Benedikt Pliquett, der mit seiner für Außenstehende fast schon sensationellen Berücksichtigung in der Startelf die Personalie des Spiels geliefert hatte.

Eine Stunde vor dem Anpfiff, am Stadionausgang bei seiner obligatorischen letzten Zigarette vor dem Spiel, hatte sich Stanislawski mit seinen Worten bei Hammer und Meißel bedient und Grundsätzliches gesprochen: "Wer etwas Besonderes erreichen will, muss Außergewöhnliches machen. Wir haben schließlich seit mehr als 33 Jahren nicht mehr gegen den HSV gewonnen." Ein Satz, gemünzt auf seine einzige Umstellung nach dem 3:1 gegen Mönchengladbach: Pliquett für Thomas Kessler.

Der Auserwählte selbst sprintete nach seinem Spiel des Lebens direkt in die Katakomben, geriet dort ins Rutschen und fiel hin. Als er sich berappelt hatte, reckte er die Faust und knöpfte sich die umstehenden HSV-Reporter vor, ehe er in der Kabine verschwand: "Ihr habt mich hier vom Hof weggejagt, ihr Lutscher!" Beim HSV war ihm der Durchbruch einst verwehrt worden, im vergangenen Jahr geriet er zur Zielscheibe Krimineller aus dem HSV-Umfeld. In der Nacht vom 21. auf den 22. August überfiel eine Gruppe Hooligans am Bahnhof Altona eine Gruppe St. Paulianer, die vom 3:1-Auswärtssieg beim SC Freiburg zurückgekehrt waren. Pliquett war unter ihnen, nun nahm er auf seine Art Revanche. "Das war mit Abstand das emotionalste Spiel meines Lebens und der größte Tag in meinem Fußballerleben".

Pliquett bekam die Chance, die ihm von Stanislawski bereits vor Wochen versprochen worden war, von der er aber endgültig erst in der Mannschaftsbesprechung zweieinhalb Stunden vor dem Anpfiff erfuhr. Kessler war zuvor in einem Einzelgespräch von Stanislawski informiert worden. "Bene wäre eigentlich schon beim Hinrundenspiel in Köln dran gewesen. Da wollte ich aber Kessler sehen, wie er mit dieser extremen Drucksituation umgehen kann", erläuterte Stanislawski. Der Kölner Kessler bestand die Feuerprobe, obwohl St. Pauli 0:1 verlor.

Nun also das Derby gegen den Ex-Klub für Bundesligadebütant Pliquett, der von Juli 2000 bis Januar 2004 das Trikot mit der Raute übergezogen hatte. Alte Verbundenheit, die dem 26-Jährigen nichts mehr bedeutet. Seine Wurzeln, die er seit 2004 beim FC St. Pauli schlägt, sind tief vorgedrungen.

Pliquett ist mehr als ein Spieler. Er liebt und lebt den Verein und dessen Attitüde, als Fan und Privatperson. Der Ahrensburger engagiert sich seit Jahren für soziale Projekte, stellt sich mit Worten und Taten gegen Faschismus und Rassismus, in letzter Konsequenz auch mit seinen imposanten 199 Zentimetern Körpergröße. Pliquett ist die Identifikationsfigur beim Kiezklub. "Er ist der Ur-St.-Paulianer bei uns im Kader und sollte das Derby schon im Hinspiel bestreiten. Es ist ein Geschenk des Trainers", erklärte Matthias Lehmann.

Und so war es mehr Verwunderung als Verständnislosigkeit, die ihm vom eigenen Anhang entgegenschlug, als er gestern Abend um 18.06 Uhr als erster St. Paulianer den Innenraum der Arena betrat und zielstrebig auf seinen neuen Arbeitsplatz zwischen den Pfosten zulief, während Kollege Kessler das Ballnetz schulterte: die Rückennummer eins als neue Nummer eins!

Durchschnittlich 1,53 Gegentore pro Partie hatte Pliquett bei seinen bisherigen 28 Ligaspielen in Regional- und Zweiter Liga hinnehmen müssen. Gestern Abend kam kein weiteres hinzu. Abgesehen von einem Wackler in der 34. Minute, als er bei einem Eckball Zé Robertos heraus-, aber nicht an den Ball kam, war auf ihn Verlass. Pliquett gestikulierte, motivierte, ordnete. Und provozierte. Nach dem Abpfiff kopierte er die Pfeil-Jubel-Szene des HSV-Stürmers Mladen Petric in dessen unmittelbarer Nähe. "Das war eine kleine Frotzelei, Mladen kann das vertragen", sagte Pliquett hinterher.

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Im Training bringt ihm sein erhöhter Redebedarf schon mal eine Rüge der Kollegen ein. "Wenn Stani nicht Wort gehalten hätte, hätte ich ihm den Kopf abgerissen", so Pliquett nach dem Abpfiff, "ich liebe diesen Verein."

Schon am Sonnabend in Dortmund bei der Über-Mannschaft von Trainer Jürgen Klopp könnte aber der nach dem Abpfiff etwas angefressen wirkende Kessler wieder ins Tor zurückkehren. Stanislawski lässt sich nicht in die Karten schauen: "Für Dortmund habe ich etwas noch weitaus Überraschenderes im Kopf. Das glaubt selbst Kloppo nicht."