Hamburg. Der HSV zeigt sich vor dem gegnerischen Tor ineffizient. Der neue Trainer bleibt vor dem Nordderby gelassen und kontert seine Kritiker.

In der wichtigsten Statistik, der Tabelle der 2. Bundesliga, ist der HSV als Neunter nach sechs Spieltagen Mittelmaß. In zwei Nebenwertungen aber macht den Hamburgern bislang so schnell niemand etwas vor.

  • Keine andere Mannschaft erarbeitet sich so viele Großchancen – durchschnittlich zwölf pro Spiel.
  • Keine andere Mannschaft hat so viele Großchancen nicht genutzt – bislang stehen für den HSV erst zehn Tore zu Buche.

Tim Walter sprach vor dem Nordderby bei Werder Bremen am Sonnabend (20.30 Uhr/Sport1 und Sky, Liveticker bei Abendblatt.de) lieber über die erste Statistik. "Ich freue mich darüber, dass wir extrem viele Torchancen herausspielen, denn das ist das Schwierigste im Fußball", sagte der Trainer bei der Pressekonferenz am Donnerstag.

Da seine Mannschaft auch in der Verteidigung "ganz gut geworden ist", sei ihm überhaupt nicht bange. Und, ja, in Zukunft werde seine Mannschaft Chancen, die sie jetzt noch vergibt, auch nutzen.

HSV-Trainer Walter weist Harniks Systemkritik zurück

Womit wir bei der zweiten Statistik wären. Aber für die hatte Walter eine Erklärung: sein besonderes System. "Spieler kommen in Situationen, die sie nicht gewohnt sind. Das dauert seine Zeit", sagte er. Im Training machten sie es schon "herausragend". Vielleicht komme im Spiel ein bisschen Druck hinzu, fehlende Erfahrung. Aber er sei da ganz gelassen.

Selten wurde beim HSV so viel über das System gesprochen wie derzeit, auch weil der Trainer selbst das gern tut. "Manche empfinden es vielleicht als atypisch, für mich ist es ganz normal", sagte Walter. Martin Harnik, der frühere HSV- und Werder-Stürmer, hat die Spielweise als möglichen Grund für den Chancenwucher ausgemacht: "Die Spieler müssen viel laufen und sind viel ins Pressing eingebunden. Wenn dann die Torchance vor dir liegt, und du hast einen Puls von 180 statt 120, dann ist es schwieriger, präzise abzuschließen", sagte der Deutsch-Österreicher dem Abendblatt bei seiner Nordderby-Analyse.

Harnik (34) verglich Walters Spielstil mit dem seines früheren Trainers Alexander Zorniger beim VfB Stuttgart. Damals hätten die Stürmer und namentlich er "extrem viele Chancen liegen lassen". Walter lässt bei aller Wertschätzung für Harnik ("Ich mag Martin sehr") den Vergleich nicht gelten: "Wir spielen intensiv gegen den Ball, aber wir jagen nicht wie in der Leipzig-Schule gnadenlos hinterher, sondern spielen mehr mit Ball aus der Position heraus."

Walter: St. Pauli war die beste Nordderby-Vorbereitung

Nur, dass sich die Spieler eben daran gewöhnen müssten, dass ihre jeweilige Position auf dem Spielfeld beim HSV jetzt eine andere sei, als sie es von anderen Trainern möglicherweise kennen. Vor dem Hintergrund sei es wohl auch kein Zufall, dass Defensivmann Moritz Heyer schon dreimal getroffen habe. Walter: "Mo hat ein Gespür für solche Situationen, hat aber aus seiner Zeit in Osnabrück auch Erfahrung, die andere nicht haben."

So sei das auch mit dem Nordderby. Aus dem aktuellen Kader hat es nur Bakery Jatta schon erleben dürfen. 2017 gab der Flügelstürmer in Bremen sein Bundesliga-Debüt für den HSV. Walter hat Jatta trotzdem nicht nach Derby-Tipps gefragt. Beim FC St. Pauli habe seine Mannschaft ja schon erfahren, wie sich ein brisantes Duell anfühlt. Walter: "Daraus müssen wir lernen. Es am eigenen Leib zu erleben ist wichtig, um sich weiterzuentwickeln."

Walter deutet baldiges Vuskovic-Debüt an

Erfahrung ist das, was dem HSV 2021/22 vielleicht am meisten fehlt. Die Last-Minute-Neuzugänge Mario Vuskovic und Tommy Doyle haben mit ihren 19 Jahren den Kader weiter verjüngt. Innenverteidiger Vuskovic ist seinem HSV-Debüt schon sehr nahe, so lassen sich Walters Aussagen verstehen: "Er kennt unsere Abläufe schon besser und bringt sich im Training sehr gut ein, das macht Spaß."

Doyle muss sich wohl noch etwas gedulden. Der englische Mittelfeld-Allrounder war erst nach der Länderspielpause in Hamburg eingetroffen – und hat laut Walter noch ein zweites Problem: "Tommy kommt von Manchester City, einer Mannschaft, die zwar einen ähnlichen Ansatz hat wie wir, in der die Spieler aber eine Qualität sondergleichen haben." Sich daran zu gewöhnen, brauche etwas Zeit. Aber man wisse, was man an Doyle habe, vor allem: "Einen sensationellen Fuß."

An Erfahrung hat Werder dem jungen HSV einiges voraus. Auf den letzten Drücker wurden noch die Bundesliga-erprobten Marvin Ducksch und Mitchell Weiser verpflichtet. "Die Mannschaft hat einen hohen Marktwert", sagt Walter, "aber wir wissen auch um unsere Stärken und, dass wir viele Chancen herausspielen können."

Jetzt müssen sie nur noch genutzt werden.