Nach dem Rückzug vieler Ultras droht bei der Heimpremiere gegen Paderborn ein Stimmungstief

Seit dieser Woche wissen Facebook-Freunde von Johannes „Jojo“ Liebnau zweierlei. Erstens: Der HSV-Anhänger ist gut in Christchurch auf der Südinsel Neuseelands angekommen. Und zweitens: Nach ziemlich genau zehn Jahren, in denen der Vorsänger der Ultragruppierung Chosen Few ausnahmslos alle Heimspiele des HSV besucht hat, wird er an diesem Sonnabend tatsächlich den Saisonauftakt gegen Paderborn (15.30 Uhr/Sky und Liveticker bei abendblatt.de) verpassen.

Jojo ist dann mal weg. Und er ist nicht der einzige. „Die CFHH wird in der kommenden Saison die ausgegliederte Profiabteilung nicht unterstützten“, hatte Liebnaus Ultragruppierung Chosen Few (CFHH) bereits am 1. Juli in einem öffentlichen Brief mitgeteilt. Die Strukturdebatte, die Öffnung für Investoren, der Streit über einen Polizeieinsatz im voll besetzten Fanblock beim Heimspiel gegen Bayern München – irgendwann war es selbst den Treuesten der Treuen zu viel. Die Beziehung zwischen Verantwortlichen, von denen einzelne den Rückzug von Liebnau und Co. sogar begrüßt haben sollen, und Ultras galt ohnehin als angespannt. Dass aber die Anhänger aus dem Block 22C im oberen Bereich der Nordtribüne, die seit mehr als zehn Jahren maßgeblich für die gute Stimmung im Volkspark verantwortlich waren, mit ihrem eigenen Club brechen, das hätte dann doch keiner erwartet. Was diese aufgekündigte Liebesbeziehung aber tatsächlich bedeutet, wurde so richtig erst am vergangenen Sonnabend beim Auswärtsspiel in Köln deutlich. Denn obwohl 5000 Hamburger mit nach Köln gereist waren, erinnerte die Stimmung im Fanblock eher an einen Bezirksliga-Kick. Kaum Gesänge, kaum Schlachtrufe, kaum Unterstützung.

„Man hat schon gemerkt, dass die Unterstützung von Chosen Few in Köln gefehlt hat“, sagt Abwehrmann Heiko Westermann, der die Anfeurung der Ultras vermisst: „Ganz ehrlich: Ich weiß gar nicht, wie die Stimmung am Sonnabend im Stadion sein wird.“

Diese Frage stellte sich aus beruflichen Gründen auch Joachim Ranau. Der Fanbeauftrage des HSV sitzt 19.000 Kilometer von Liebnau entfernt in seinem Büro in der Westtribüne der Imtech Arena und weiß nicht so genau, was ihn und seine Kollegen bei der Partie gegen Paderborn von den Rängen erwarten wird. „Wir sind sehr gespannt, wie die Stimmung beim ersten Heimspiel sein wird“, sagt Ranau. „Sicherlich wird es zunächst weniger Unterstützung, weniger lautstarken Support als in den vergangenen Jahren geben. Nach dem Rückzug von Chosen Few muss sich die Fanszene nun erst einmal neu finden“, sagt der Diplom-Pädagoge, den vor allem die Frage beschäftigt, wer nun zukünftig die Rolle der Stimmungsmacher übernehmen wird.

Die gleiche Frage wird auch innerhalb der extrem heterogenen Ultraszene heiß diskutiert. Kleinere Gruppen wie North Crew scheinen chancenlos. Ernst zu nehmender Anwärter ist die Gruppierung von Poptown (PT), die sich im Gegensatz zu den Anhängern von Chosen Few nach der Strukturreform gegen einen Rückzug entschieden hat. „Poptown ist etwas anders organisiert als Chosen Few, hat nun aber die große Chance zu beweisen, dass sie auch ohne die Chosen Few für gute Stimmung sorgen kann“, sagt Ranau, der am Montag im Fanhaus in der Stresemannstraße den Dialog mit den meist jugendlichen PT-Ultras gesucht hat.

Doch genau hier beginnen die Probleme. Denn anders als CFHH gilt sowohl die interne als auch externe Kommunikation mit PT als schwierig. Dabei muss man wissen, dass Ultras normalerweise bedingungslos ihre Farben unterstützen, mit Vereinsverantwortlichen aber auch schon mal aneinandergeraten können. Innerhalb des HSV haben jedenfalls nur wenige einen guten Draht zu den Poptown-Ultras, die in der jüngeren Vergangenheit öfters auch negativ aufgefallen sein sollen. Der HSV musste etwa einen sechsstelligen Betrag für das Abbrennen von Pyrotechnik bezahlen,. Auch der Gesprächsversuch des Abendblatts, über den die Poptown-Ultras länger nachdachten, scheiterte. „Viele werden erst später merken, wie wichtig Chosen Few für den HSV und besonders für den Support überhaupt war“, sagt Ranau, der darauf setzt, dass „mit der Zeit die vielen aufgerissenen Gräben wieder zugeschüttet werden.“

Formell zuständig für diese Gräben ist in der neuen AG-Struktur ausgerechnet Ex-HSV-Chef Carl Jarchow, der sich interimsweise um die Fanbelange kümmern muss. Dies ist insofern pikant, als dass Jarchow bei vielen Ultras als rotes Tuch gilt. „Vielleicht wird es etwas ruhiger“, sagt Jarchow, „vielleicht sind aber auch andere Gruppierungen bereit, etwas zu organisieren.“ Glaubt man den Experten, wird dieser Wunsch zunächst unerfüllt bleiben: „Chosen Few hatte eine sehr große Bedeutung in der Fanszene, aber auch für den Verein – man denke nur an die großartigen Choreografien“, sagt Ranau.

Eine Choreografie wurde dann doch für das erste Heimspiel angekündigt. Angemeldet aber weder von Poptown noch Chosen Few. Sondern von den Fans von Liganeuling Paderborn.