Trainer Fink hat die Idee vom internationalen Wettbewerb auf den Index gesetzt. Stapelt er tief oder ist er nur Realist? Eine Analyse.

Hamburg. Das Image von Europa könnte sicherlich besser sein. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht über die finanziellen Sorgenkinder Griechenland, Spanien oder Portugal berichtet wird. Auch Englands Premier David Cameron machte vor Kurzem sehr deutlich, was er von der europäischen Idee hält, oder besser: was er nicht davon hält. Und sogar abseits der großen Politik hat nun HSV-Trainer Thorsten Fink das schlichte Wort "Europa" auf den internen Index gesetzt: "Wir nehmen das Wort nicht in den Mund", hatte er am Wochenende etwas abschätzig gesagt, als ob Europa so etwas Ähnliches wie der sich aktuell immer mehr ausbreitende H1N1-Virus sei.

Ist es natürlich nicht. Selbstverständlich ist auch Fink ein überzeugter Europa-Fan, der lediglich davor warnen wollte, dass seine Mannschaft ganz einfach noch nicht reif genug sei, um sich für den internationalen Wettbewerb, also für die Europa League, zu qualifizieren. Die sich aufdrängende Frage lautet nur: Hat er denn überhaupt recht?

Nach genau zwei Dritteln der bisherigen Saison lautet die eindeutige Antwort: Jein. Aktuell liegt der HSV auf Platz sechs, hat sogar zwei und mehr Punkte Vorsprung auf die Konkurrenz. In der Rückrunde konnte Finks Mannschaft endlich auch bisher immer fehlende Konstanz beweisen, im Jahr 2013 hat der HSV nach Bayern und Dortmund die meisten Rückrundenpunkte gesammelt. Größter Trumpf dabei scheint die Defensive, die in dieser Saison lediglich 27 Gegentore (Platz vier in der Bundesliga) zuließ.

Eine vom Abendblatt bei Castrol Edge in Auftrag gegebene Statistikanalyse zeigt aber, dass die wenigen Gegentore nicht unbedingt Produkt einer überragenden Abwehrarbeit sind. Tatsächlich ließ in der Bundesliga keine Mannschaft so viele Torschüsse (351) zu wie der HSV. Zum Vergleich: Bayern München (167 zugelassene Torschüsse), Borussia Dortmund (224) und der SC Freiburg (253) bewegen sich hier in ganz andere Sphären. Hauptgrund für die wenigen Gegentore ist demnach die herausragende Saison von Torhüter René Adler, der 76,7 Prozent aller Chancen vereiteln konnte und in dieser Statistik nur noch hinter Nationalmannschaftskonkurrent Manual Neuer (Bayern/86 Prozent) steht. Während Adler also bereits auf Champions-League-Niveau ist, hat Hamburgs Gesamtdefensive noch kein internationales Format.

Und auch in der Offensive hat das Fink-Team noch Luft nach oben. Der HSV darf sich zwar über 53 Prozent Ballbesitz freuen (Platz fünf), konnte daraus aber nur selten Kapital schlagen. 264 Torschüsse entsprechen lediglich Platz zehn, die Chancenverwertung von 12,7 Prozent bedeutet sogar nur Rang zwölf im Ligavergleich. Auch bei den nicht unwichtigen Parametern Passgenauigkeit (78,6 Prozent/Platz neun) und gewonnene Zweikämpfe (48,5 Prozent/Platz 14) ist von einem europäischen Anspruch noch nichts zu sehen.

Thomas Doll kennt all diese Daten und Fakten, glaubt aber trotzdem, dass der HSV eine reelle Chance auf den internationalen Wettbewerb hat. "Die Mannschaft von Thorsten Fink wirkt gefestigt und homogen. Der größte Vorteil des HSV könnte aber die Schwäche der anderen sein", sagt der frühere HSV-Coach, der hofft, dass die Hamburger das Formtief von einstigen Europapokalaspiranten wie Schalke, Bremen, Stuttgart oder Wolfsburg ausnutzen können. "Man darf nicht vergessen, dass der HSV im Gegensatz zu Schalke, Gladbach, Hannover und Stuttgart keine Doppelbelastung verkraften muss", sagt Doll, der Mainz, Freiburg und Frankfurt als Hauptkonkurrenten ausgemacht hat: "Der HSV hat sein System gefunden, spielt endlich konstant und hat auch keine übermächtigen Konkurrenten. Er hat tatsächlich die reelle Chance, sich schon in dieser Saison für Europa zu qualifizieren."

Internationale Reife kann dem Team ohnehin niemand absprechen. Fink hat 16 Spieler zur Verfügung, die schon 346-mal in der Europa League oder Champions League gespielt haben, allein Rafael van der Vaart war für den HSV, Real Madrid, Tottenham Hotspur und Ajax Amsterdam in 67 Europapokalspielen aktiv. Zum Vergleich: Bei Hauptkonkurrent Freiburg haben nur vier Spieler mit insgesamt 18 Einsätzen internationale Erfahrung gesammelt. "Für den HSV wäre der internationale Wettbewerb nicht nur finanziell sehr wichtig, sondern auch für die Weiterentwicklung der jungen Spieler", sagt Doll, der trotz der rosigen Aussichten das Understatement der Verantwortlichen lobt: "Niemand in Hamburg würde sich gegen eine frühzeitige Qualifikation für Europa sträuben. Und trotzdem halte ich es von allen Beteiligten für richtig, dass derartige Ziele nicht zu überheblich formuliert werden, das würde nur unnötigen Druck erzeugen."

Druck hat der HSV aufgrund der finanziellen Situation schon mehr als genug. Längst ist es kein Geheimnis mehr, dass die Qualifikation für Europa aus wirtschaftlicher Sicht schon in dieser Saison ein absolutes Muss ist. Der HSV lässt sich seinen Kader immer noch rund 42 Millionen Euro kosten, dürfte damit im Ligavergleich hinter Bayern (125 Millionen Euro), Wolfsburg (90 Millionen Euro), Schalke (65 Millionen Euro) und Dortmund (48,5 Millionen Euro) auf Rang fünf liegen. Der SC Freiburg gibt übrigens lediglich 16 Millionen Euro für seine Profiabteilung aus (Rang 16), bleibt deswegen trotz des momentanen sportlichen Erfolgs auch weiterhin bei der offiziellen Zielsetzung Klassenerhalt. Aber - ausnahmsweise mal eine platte Floskel zum Schluss - Hamburg ist nun mal nicht Freiburg.

Mitarbeit: Lucas Hartmann, Statistiken: Castrol Edge