Nach der besten Leistung seit Jahren gewinnt der HSV in Dortmund mit 4:1. Ein lange ersehnter Erfolg, der jetzt schon Kultcharakter hat.

Dortmund/Hamburg. Kurz bevor der für einen Abend vom Rauten- zum Partyexpress umbenannte HSV-Mannschaftsbus um Punkt 18.30 Uhr das Westfalenstadion verließ, präsentierte Hamburgs Trainer Thorsten Fink noch stolz seine Trophäe. Mit einem überdimensionalen Tipp-Kick-Spiel unter dem Arm schlenderte der Coach zum wartenden Bus und ließ sich vor dem 14 Meter langen, 25 Tonnen schweren und im Gepäckraum mit jeder Menge Bier ausgestatteten Gefährt geduldig von einigen Fans umarmen und herzen. "Das Tipp-Kick-Spiel war der Preis beim heutigen Gewinnspiel unter den Journalisten. Komischerweise hatte niemand auf das richtige Ergebnis gewettet", sagte Fink, der gar nicht erst versuchte, die Bedeutung des 4:1-Auswärtssiegs beim Deutschen Meister Borussia Dortmund herunterzuspielen: "Heute ist wohl mein glücklichster Tag als HSV-Trainer. Dieses Spiel war etwas Besonderes, das wird keiner so schnell vergessen."

Bereits unmittelbar nach der Partie, die aus Hamburger Sicht den Zusatz "historisch" verdiente, ließen die euphorisierten Hamburger ihren Gefühlen freien Lauf. Während aus der Kabine lautstark "Call me Maybe" von Carly Rae Jepsen dröhnte, versuchten die Protagonisten des 90-minütigen Fußballfestes Erklärungen für das eben Erlebte zu suchen. "Ich weiß noch gar nicht so genau, was ich jetzt sagen soll", meinte Doppeltorschütze Heung Min Son, der bereits beim 3:2-Sieg in der Hinrunde doppelt traf, "wir wollten dieses Spiel einfach gewinnen." Ähnlich sah es auch Torhüter René Adler, der die Sachlichkeit erst später beim Anstoßen mit Ersatzkeeper Jaroslav Drobny und Zeugwart Mario Mosa im Partyexpress ablegen konnte: "Unsere junge Truppe war ein paar Prozent konzentrierter als sonst."

Mit allem Recht darf sich der HSV als "Meisterbesieger" feiern lassen - schließlich war es nach dem 3:2 in Hamburg der zweite Saisonsieg gegen Dortmund, für den neben Son auch Artjoms Rudnevs mit einem Doppelpack sorgte. "Wir haben in Dortmund auf internationalem Niveau gekämpft, auf internationalem Niveau gespielt und Tore auf internationalem Niveau geschossen", schwärmte Sportchef Frank Arnesen, der sich dennoch vor der fast logischen Konsequenz drücken wollte: "Über internationale Ansprüche will ich noch nicht reden."

Dabei hatte es wirklich internationales Format, wie der erstarkte HSV die zahlreichen Abwehrfehler der Dortmunder gnadenlos ausnutze. Selbst der frühe Rückstand (17.) nach einem Sekundenschlaf Heiko Westermanns, der Robert Lewandowskis 14. Saisontor quasi vorlegte, konnte an Tagen wie diesem, den BVB-Trainer Jürgen Klopp später schlicht einen "Scheißtag" nannte, die Hamburger nicht bremsen.

Gerade mal eine Minute brauchte der HSV, um mit dem schönsten Angriff des Tages über Westermann, Marcell Jansen, Dennis Aogo und Rudnevs zurückzuschlagen (18.). Sons Sonntagsschuss am Sonnabend (26.), Rudnevs zehntes Saisontor (62.) und Sons neunter Saisontreffer (89.) sorgten schließlich dafür, dass nach dem Festakt vor 80.645 Zuschauern nur noch kurz über das Theater rund um Lewandowskis vertretbaren Platzverweis (31.) diskutiert wurde. "Ich habe ein bisschen Theater gemacht, weil der Schiedsrichter die gerechte Rote Karte erst nicht geben wollte", gab van der Vaart, der nach Lewandowskis grobem Foul gegen Per Skjelbred für eine Rudelbildung sorgte, später etwas naiv zu. Dortmunds Trainer Klopp war wenig amüsiert: "Das ist der schlechteste Satz, den ich jemals gehört habe. Warum sagt er so etwas?"

Sehr viel mehr Klasse hatte es dagegen, was der niederländische Regisseur auf dem Platz vor und nach dem Platzverweis ablieferte. "Rafa hat auf dem Feld klargemacht, dass er dieses Spiel unbedingt gewinnen wollte. Das war schon wieder 80 bis 90 Prozent seiner Topform", lobte Fink, der daran erinnerte, dass der zuletzt schwächelnde van der Vaart verletzungsbedingt seit November nur unregelmäßig trainieren konnte. Der Gelobte, der in der Woche im Spaß auf einen 4:0-Sieg des HSV getippt hatte, freute sich über die verbalen Blumen, erinnerte aber daran, dass es nun gelte, die Form zu konservieren: "Leider fehlt uns noch die Konstanz, jetzt müssen wir nächste Woche gegen Gladbach endlich mal nachlegen."

Und wirklich dürfte es wohl Finks schwierigste Aufgabe werden, die kollektive Euphorie während dieser Trainingswoche in Konzentration umzuwandeln, zumal er vorerst auf den ebenfalls mit Rot vom Platz verwiesenen Jeffrey Bruma (siehe Text unten) verzichten muss. "Leider wird meine Mannschaft immer wieder Schwankungen haben", sagte der gebürtige Dortmunder, der auch nach dem kurzfristigen Sprung auf Platz fünf nichts von europäischen Zielen wissen wollte: "Wenn die Zeit kommt, dann dürfen wir auch von Europa reden. Aber noch fehlt uns ganz einfach die Konstanz. Diese Konstanz haben wir noch nicht erreicht."

Gefeiert werden durfte aber selbstverständlich trotzdem. Neben den Biervorräten, die Busfahrer Miroslav Zadach vorsorglich für die vierstündige Rückfahrt besorgt hatte, belohnten sich die Spieler mit gut gelaunter "Sportschau"-Analyse und einem ausgiebigen Boxstopp bei einer McDonald's-Autobahnraststätte kurz vor Münster. Die HSV-Fans, die das Schnellrestaurant bereits vorher geentert hatten, trauten ihren Augen nicht. Ohnehin pflegten viele der rund 10.000 mitgereisten Anhänger auf der Heimfahrt über die sozialen Netzwerke Facebook und Twitter einen intensiven Kontakt mit ihren Helden. So wurde auch das Jubelbild aus der Dortmunder Kabine, das Jansen seiner Fangemeinde nach dem Abpfiff präsentierte, umgehend im Sonderzug zwischen Dortmund und Hamburg nachgespielt.

Als der Fanzug gegen 22 Uhr Hamburg-Hauptbahnhof erreichte, war die Party noch lange nicht vorbei. Bis in die Morgenstunden wurde die Meisterleistung im Schanzenviertel und auf St. Pauli zelebriert. Schlusswort von Mittelfeldabräumer Tomas Rincon: "Heute darf jeder feiern. Es war ein geiler Sieg in einem geilem Stadion."