Augenzeugen der Bundesliga: Wie ein schwerer Unfall 1989 die fußballerische Laufbahn des HSV-Verteidigers Ditmar Jakobs beendete.

Hamburg. Sie hatten sich aus den Augen verloren, einige Jahre nicht gesehen. Doch als Hermann Rieger kürzlich in Hamburg in einem italienischen Restaurant saß und ihm ein Mann auf die Schulter tippte, erkannte er das Gesicht beim Umdrehen sofort: "Mensch, Burschi, du bist doch der Axel Fielker!" Man geriet ins Plaudern, und es dauerte nicht lange, bis sich der ehemalige, aus Bayern stammende Kultmasseur des HSV und der frühere Mannschaftsarzt an jene Szene am 20. September 1989 erinnerten, die Rieger noch heute als die "schlimmste Verletzung während meiner beruflichen Laufbahn" bezeichnet und die als schrecklichster Unfall in die Bundesliga-Geschichte einging.

Das alte, weitläufige Volksparkstadion in Hamburg bot wenig Schutz bei ungemütlichem Wetter. Wie an jenem Mittwochabend vor über 23 Jahren, als Werder Bremen zu Gast war und Windböen die wenigen Fans frösteln ließen. Nur 14.000 Menschen verloren sich in der Betonschüssel, was nicht nur dem Wetter, sondern auch dem Fehlstart in die Saison geschuldet war. Nach neun Spielen rangierte der HSV mit 7:11 Punkten nur auf dem 16. Platz. Ein 0:0 gegen den FC St. Pauli am Wochenende davor trübte die Stimmung zusätzlich.

Die Bremer mit dem damaligen Trainer Otto Rehhagel hatten in der Anfangsphase das Spiel im Griff und nach 14 Minuten die große Chance zur Führung: Nach einem Fehlpass von Armin Eck erkämpfte sich Rune Bratseth auf Höhe der Mittellinie den Ball und gab ihn an Stürmer Wynton Rufer weiter. Doppelpass mit Marco Bode, und der Neuseeländer lupfte den Ball aus 16 Metern geschickt über den herauseilenden Richard Golz. Der Ball strebte scheinbar unaufhaltsam dem Tor entgegen. Doch Ditmar Jakobs gab sich noch nicht geschlagen. Der 36-jährige Verteidiger, der sein 493. Bundesliga-Spiel, davon 323 für den HSV, absolvierte, legte seine ganze Kraft in den Sprint, schlug in letzter Kraft den Ball von der Torlinie - und rutschte völlig ungebremst auf dem Rücken liegend ins Tor. Die HSV-Fans feierten die große Rettungstat ihres "Jako", ihrer Kampfmaschine, frenetisch. Noch ahnten sie nicht, dass sie gerade die letzte Aktion des Publikumslieblings gesehen hatten, der zu den Helden von 1983 gehörte, als Juventus Turin in Athen mit 1:0 im Landesmeister-Finale geschlagen wurde.

"Sofort wurde uns signalisiert, dass wir kommen sollten", fängt Rieger an zu erzählen, und sein Atem scheint unbewusst in einen schnelleren Wettkampf-Rhythmus zu verfallen. Mit dem Koffer unter den Armen rennt er los, der junge Axel Fielker, damals noch Assistenzarzt und nur die Vertretung für den erfahrenen ersten HSV-Mannschaftsarzt Dr. Ulrich Mann, läuft neben ihm. Sekunden später sieht Rieger, warum Jakobs, der alles andere als wehleidig gilt, noch immer am Boden liegt: Ein Karabinerhaken, der zum Spannen des Tornetzes benutzt wurde, hat sich in Beckenhöhe in den Rücken des Fußballers gebohrt, direkt an der Wirbelsäule. Jakobs ertastet das kalte Metall, spürt aber keine Schmerzen. "Am Anfang hat Jako noch gescherzt", erinnert sich Rieger, "er stand wohl unter Schock. Er forderte uns auf: Macht's endlich was, wie lange soll ich noch hier rumliegen?"

Rieger versucht den Haken wieder herauszuziehen - ohne Erfolg. "Ich hatte damals gute Hände, meine Finger waren durch das Bergsteigen kräftig. Aber da bewegte sich nicht einen Millimeter etwas, die Muskulatur war sofort angeschwollen, der Haken hatte sich wie ein Ring um eine Wurst gelegt und zugeschnappt", sagt der Masseur. Die Minuten vergehen, um die Unfallstelle werden Schutzplanen aufgebaut. Im Stadion ist es längst mucksmäuschenstill geworden, "wie auf einer Beerdigung oder beim Krieg, so war die Atmosphäre, wirklich gespenstisch", so Rieger.

Ein zweiter Versuch. Der Busfahrer hantiert mit einer Flex-Maschine herum, will die Stange, an der der Karabinerhaken befestigt ist, durchtrennen. Jakobs wird unruhig. Er hat Angst, dass sich durch die Funken sein synthetisches Trikot entzünden könnte.

Schließlich fasst Axel Fielker zusammen mit Jakobs eine Entscheidung: Wir müssen ihn aufschneiden, mit dem Skalpell eine Mini-Operation durchführen. Rieger: "Mir schossen tausend Gedanken durch den Kopf: Was passiert, wenn er danach querschnittsgelähmt ist? Ganz ehrlich, ich hätte mir diese Entscheidung nicht zugetraut."

Der Masseur präpariert etwa ein Kilo Verbandszeug für eine feste Bandage, Jakobs wird mit einer Kochsalzlösung versorgt, um den Kreislauf stabil zu halten. Rieger: "Dann setzte der Doc einen Schnitt quer über den Rücken und durchtrennte den Muskel. Sofort floss das Blut, aber wir konnten den Karabinerhaken herausholen."

Jakobs wird 20 Minuten nach dem Unfall befreit und sofort vom inzwischen eingetroffenen Krankenwagen in die Paracelsus-Klinik in Henstedt-Ulzburg gefahren, Fielker begleitet ihn.

Das für insgesamt 25 Minuten unterbrochene Spiel dreht sich nach Jakobs' Verletzung. Die wenigen Zuschauer verjagen ihre Angst um den 20-maligen Nationalspieler und Vize-Weltmeister von 1986, indem sie in der Folge eine Stimmung wie bei einem Europacup-Endspiel machen und die Bremer bei jedem Ballkontakt auspfeifen. Der HSV gewinnt 4:0, und Otto Rehhagel staunt nach dem Spiel: "Nach der Verletzung hat das Publikum total Partei für ihre Mannschaft ergriffen, die Hamburger haben super gekämpft." Fast mit dem Schlusspfiff ist auch Fielker wieder im Stadion eingetroffen und gibt Rolf Töpperwien im ZDF ein Interview: "Ditmar Jakobs hat eine etwa zehn Zentimeter lange Schnittverletzung, die ich selber angerichtet habe. Ausgehend von einer Karabinerhakenverletzung, die etwa einen Zentimeter unter die Haut ging. Keine sehr hübsche Wunde, deswegen mussten wir sie im Krankenhaus versorgen. Nachdem wir die Wunde genäht haben, konnten wir ihn nach Hause entlassen."

Ende gut, alles gut also? Nach einigen Wochen in der Reha wurde klar, dass aus dem angestrebten Comeback von Jakobs nichts wird. Durch den Unfall und das Herausschneiden waren einige nur drei Zentimeter von der Wirbelsäule entfernte Nervenbahnen und auch Wirbel schwerer verletzt als vermutet. Bis heute leidet Jakobs unter den Spätfolgen, er hat Druckschmerzen und ist in seinen Bewegungen eingeschränkt. Und doch freut sich Rieger jedes Mal, wenn er Jakobs, der heute erfolgreich als Versicherungsmakler arbeitet, bei dessen Hobby Golfen sieht: "Der Rollstuhl ist ihm erspart geblieben, er kann Sport treiben, darüber bin ich unendlich dankbar." Aber die Bilder von damals, im alten, zugigen Volksparkstadion, sie werden ihn ewig verfolgen. "Solange ich lebe."