HSV-Aufsteiger Tolgay Arslan erklärt, warum er erst gegen die Verpflichtung von Rafael van der Vaart war und ihm jetzt alles zu verdanken hat.

Hamburg. Die ersten Fragen sind schnell beantwortet. Erste oder Zweite Klasse? Zweite Klasse. Gang oder Fenster? Gang. In oder gegen die Fahrtrichtung? In Fahrtrichtung. Doch bevor der perfekte Platz im ICE 1129 für Gesprächspartner Tolgay Arslan gefunden und das verabredete Interview im wahrsten Sinne des Wortes so richtig an Fahrt aufnehmen kann, unterbricht der Lautsprecher: Sehr geehrte Fahrgäste ... Verspätung ... 45 Minuten ... Umleitung hinter Osnabrück ... um Entschuldigung bitten ... Wir informieren Sie über Ihre Anschlusszüge in Köln ...

Tolgay Arslan lehnt sich tief in seinen Sitz zurück: "Na, dann haben wir ja ein bisschen Zeit." Und tatsächlich gibt es wohl nichts Besseres, als eine fünfstündige Zugfahrt von Hamburg nach Köln, um das abgelaufene Jahr Revue passieren zu lassen und einen Ausblick auf das kommende Jahr zu werfen. "Ich glaube, dass ich ein ziemlich gutes Jahr hatte", sagt der HSV-Profi, "aber jetzt will ich unbedingt den nächsten Schritt machen. 2013 wird mein Jahr."

Rückblick. Es ist ziemlich genau zwölf Monate her, als Arslan das letzte Mal mit dem Abendblatt einen Rück- und Ausblick gewagt hatte. Damals saß der Deutsch-Türke auf einer kleinen Tribüne im Trainingszentrum von Marbella, schwitzte und wusste nicht so recht, was er sich vom Jahr 2012 erhoffen sollte. "Ich hatte große Angst um meine Karriere", sagte er damals. Ein schlimmes Foul im Sommer 2011, eine erst spät diagnostizierte Verletzung im Sprunggelenk, sechs Monate Pause. Im Jahr 2011 hatte bei Arslan das Glück nicht gerade eine Dauerkarte. "Es war keine einfache Zeit für mich", sagte der sonst meist gut gelaunte Fußballer, nun wünschte er sich einfach nur Gesundheit, und wenn dann alles gut laufen sollte, eine faire Chance.

Und es lief alles gut. "Tolgay ist für mich die größte Überraschung des Jahres", sagt Trainer Thorsten Fink ziemlich genau ein Jahr danach, niemand habe in diesem Jahr seine Chance so konsequent genutzt wie der Pechvogel des Vorjahres. "Ich glaube schon, dass ich mich etabliert habe. Ich habe den Step zum Stammspieler geschafft", sagt Arslan, der sich im Hier und Jetzt auch nicht vom Schaffner oder erneuten Durchsagen aus der Ruhe bringen lassen will. Wieder meldet sich der Lautsprecher: ... leider mitteilen ... rund eine Stunde Verspätung ... es tut uns leid ...

Auf die Deutsche Bahn ist eben Verlass. Arslan nutzt die Zeit, sucht nach Gründen für sein tolles Jahr. Mit Mentaltrainer Thomas Kloth, mit dem er seit seiner schweren Zeit vor anderthalb Jahren zusammenarbeitet, habe er die perfekte Spielvorbereitung gefunden: früh schlafen gehen, früh aufstehen, eiskalt duschen. Einen Zettel mit persönlichen Zielen für die Partie aufschreiben, die Notizen im Stutzen verstecken und den Zettel nach dem Aufwärmen wegwerfen. "Nur weil ich besser spiele, höre ich mit dem mentalen Training nicht auf. Mir hilft es sehr, mich so zu fokussieren."

Aber der Kopf ist das eine, der Körper das andere. Wahrscheinlich gibt es kaum einen Spieler beim HSV, der so akribisch an sich selbst arbeitet wie Tolgay Arslan. Zwischen Weihnachten und Silvester hat sich der U21-Nationalspieler erneut seinen Privattrainer Jens Schultze genommen, mit dem er im Sportpark in der Heimat Paderborn ein speziell auf ihn angestimmtes Athletiktraining absolvierte. Sechsmal anderthalb Stunden Sprinttraining für die Beine mit dem ehemaligen deutschen Zehnkampfmeister. "Ich brauche diesen Kampf, das Gefühl, dass ich alles aus mir raushole", sagt Arslan. Zwei Kilo hat er abgenommen, ist drahtiger geworden, athletischer, schneller.

Übersetzt heißt Arslan "der Löwe". Und wie ein Löwe sein Revier will auch der gerade mal 1,80 Meter große Edelkicker im Trainingslager in Abu Dhabi vom 2. Januar an seinen Stammplatz im Mittelfeld verteidigen. Mit Marcell Jansen, Petr Jiracek und Rafael van der Vaart nehmen gleich drei genesene Langzeitverletzte den Kampf um eine Position auf. Aber Arslan ist mittlerweile selbstbewusst genug, die Konkurrenzsituation anzunehmen: "Ich will den kleinen Vorsprung, den ich zu manch etabliertem Kollegen vielleicht habe, ausbauen. Ich musste schon in der Jugend immer um meinen Platz kämpfen."

Aber der Überflieger der letzten Monate will auch nicht verheimlichen, dass es gerade mal ein halbes Jahr her ist, dass er beim HSV kurzzeitig vom Kämpfen genug hatte: "Wenn ich ehrlich bin, hatte ich zunächst gehofft, dass Rafael van der Vaart nicht kommt, weil doch klar war, dass es das dann für mich gewesen ist." Damals bereute er sogar die Entscheidung, seinen Vertrag kurz zuvor bis 2015 verlängert zu haben.

"Als Rafa kam, dachten alle, dass es für mich mit der ersten Elf vorbei ist", sagt Arslan, der das gleiche dachte. Doch im Nachhinein sei die Verpflichtung van der Vaarts für alle beim HSV ein Glücksgriff gewesen, insbesondere für ihn selbst. Er habe gelernt, sich auf einer anderen, etwas defensiveren Position zurechtzufinden. "Rafa hat mir in meiner Entwicklung unglaublich geholfen, dafür bin ich ihm sehr dankbar."

Doch was kann sich der zum Stammspieler gereifte Mittelfeldmann nun überhaupt für das Jahr 2013 vornehmen? Hm, sagt Arslan, und überlegt. Er wolle gerne mehr Verantwortung und eine Führungsrolle übernehmen, und er möchte auf dem Platz in schwierigen Situationen die Anspielstation sein, die von den anderen gesucht wird. Das alles reiche ihm aber nicht mehr. Arslan, der unbedingt im Sommer bei der U21-EM in Israel für Deutschland internationale Erfahrungen sammeln will, hat Großes vor. "Früher oder später will ich einer der Top-Ten-Spieler der Bundesliga sein", sagt der 22-Jährige irgendwo auf der Strecke zwischen Osnabrück und Rheine selbstbewusst. "Ich bin eben nicht mehr der gleiche Spieler wie vor einem Jahr."

Nach dem schwierigsten Jahr seiner Karriere, 2011, und dem wohl besten Jahr seiner Karriere, 2012, soll 2013 nun also die Krönung folgen. An Silvester werde er sich ein paar Momente Zeit nehmen, um das alles mal in Ruhe zu verarbeiten. "So viel Zeit hat man ja normalerweise nicht." Und wirklich, auch die Zeit in der Bahn neigt sich dem Ende entgegen. Wieder meldet sich der Lautsprecher: In wenigen Minuten erreichen wir Köln Hauptbahnhof ... wir danken für Ihre Geduld ... fahren Sie bald wieder mit der Deutschen Bahn ...

Arslan steht auf, schüttelt die Beine aus. "Na dann, ein erfolgreiches Jahr 2013!" Das Ziel ist erreicht.