Hamburgs 0:4 gegen VfB Stuttgart war der Tiefpunkt einer verkorksten Saison. Nicht nur der Sportchef macht sich große Sorgen um den Klub.

Hamburg. So einen Tag wie am Sonnabend, da war sich Hermann Rieger unmittelbar nach dem 0:4-Debakel seines HSV gegen den VfB Stuttgart sicher, hat er selten erlebt. "Der HSV hat nicht wie eine Mannschaft gespielt. Das war überhaupt kein Miteinander", sagte der frühere Kultmasseur, der nur wenige Minuten später selbst ein Opfer von fehlender Zusammenarbeit wurde. Der Bus seines Fanklubs "Hermanns treue Riege", der Rieger wie immer nach Heimspielen Richtung Alfstedt nahe Bremervörde kutschieren sollte, war ohne ihn abgefahren, weil er den Abfahrtstermin verpasst hatte. So war Rieger, den später ein Bekannter am verwaisten Busparkplatz abholte, erst kurz vor Mitternacht in den eigenen vier Wänden. Es war der passende Abschluss für einen rabenschwarzen Sonnabend, den wohl nicht nur Rieger so schnell nicht vergessen wird.

Tatsächlich darf Hamburgs sechste Heimniederlage dieser Spielzeit, die zusätzlich durch Paolo Guerreros Platzverweis garniert wurde, als bisheriger Tiefpunkt einer unterm Strich völlig verkorksten Saison bezeichnet werden. "Wir haben ohne Biss, ohne Leidenschaft und leider auch ohne Willen gespielt. In dieser Form habe ich das noch nicht erlebt. Es war das schlechteste Spiel, seit ich beim HSV bin", fasste Heiko Westermann die vorangegangenen 90 Minuten treffend zusammen. Dabei war keinesfalls das Ergebnis von 0:4 das Erschreckende an diesem tristen Nachmittag, es war die Art und Weise, wie dieses Resultat zustande gekommen war. "Bundesliga geht so nicht! Jeder muss in den Spiegel schauen und sich fragen, was er hier heute gemacht hat", polterte Sportchef Frank Arnesen, der fassungslos war, dass sich sein Team nach dem guten Auftritt in Mönchengladbach vor einer Woche so desolat präsentierte.

Trainer Thorsten Fink hat Paolo Guerrero nach dem brutalen Foul zur Aussprache zitiert, plädiert aber für eine maßvolle Spielsperre seitens des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). „Natürlich werden wir Paolo bestrafen. Wenn einer eine Rote Karte bekommt, wird er immer bestraft. Aber es war seine erste und er hat nicht nachgetreten und nicht nachgeschlagen“, sagte der Coach am Montag.

Experten forderten bis zu zehn Spiele Sperre. Der DFB nahm am Montag die Ermittlungen auf. „Wir wollen ihn nicht in Schutz nehmen, aber er ist kein Wiederholungstäter. Wir wollen nichts verharmlosen, aber wir wollen es auch nicht schlimmer machen, als es ist“, führte Fink aus. Es könne nicht sein, dass der Berliner Profi Andreas Ottl bei einem ähnlichen Foul drei Spiele Sperre bekomme und für Guerrero das Strafmaß deutlich höher ausfallen solle. „Es war schlimm, aber keine Tätlichkeit“, sagte Fink.

Gemeinsam mit der Mannschaft und Fink hatte sich Sportchef Arnesen am frühen Sonntagmorgen in die Katakomben der Imtech-Arena zurückgezogen, um die Geschehnisse des Vortags Punkt für Punkt aufzuarbeiten. "Es war gut zu sehen, dass die Spieler auch untereinander diskutiert haben. Es kann nicht immer alles vom Trainer oder dem Stab kommen", sagte der Däne, der von nun an keine Ausreden mehr akzeptieren will: "Ich habe mich immer vor die Mannschaft gestellt, weil ich weiß, dass sie Zeit braucht - aber nun bin ich zum ersten Mal richtig enttäuscht. In der Bundesliga kannst du nicht 75 oder 80 Prozent geben."

+++ Das Spiel im Liveticker +++

+++ Die aktuelle Tabelle +++

Besonders Slobodan Rajkovic durfte sich angesprochen fühlen, der am Vortag gleich drei der vier Gegentreffer verschuldet hatte. Beim 0:1 (23.) ließ sich der Serbe von Gegenspieler Ibisevic ausspielen, vor dem 0:2 rammte er Stuttgarts Okazaki im Strafraum um (31.), und vor dem 0:3 foulte er Harnik (47.) - erneut im Strafraum. Lediglich das 0:4 durch Harnik (90.) hatte der frühere Chelsea-Profi nicht alleine zu verantworten. "Natürlich bin ich sehr enttäuscht. Ich habe mir heute Morgen die Elfmeter-Szenen noch mal auf Video angeschaut und bin der Meinung, dass es beides keine Elfmeter waren", sagte Rajkovic nach Finks und Arnesens Worten zum Sonntag, "Fußball ist eine Sportart mit Körperkontakt."

+++ Guerreros hässliche Seite +++

+++ Nachspiel: Der inkorrekte Profi aus Peru +++

Genau diese Lehre schienen die Hamburger allerdings erst nach den 90 Minuten gezogen zu haben. Obwohl die Statistik den HSV mit 54 Prozent gewonnener Zweikämpfe als theoretischen Sieger in den Mann-Mann-Duellen auswies, wurden ganz praktisch alle entscheidenden Zweikämpfe verloren. Zudem erspielte sich der HSV keine einzige hundertprozentige Torchance, schoss erst durch Petric nach 44 Minuten erstmals auf das VfB-Tor. "Wir haben leider nicht mit der Leidenschaft gespielt, die wir benötigen", kritisierte Fink, der angesichts von nur noch fünf Punkten Vorsprung auf die Abstiegsränge ein trauriges Fazit zog: "Vielleicht sind wir auch nicht gut genug für mehr. Wir gehören dahin, wo wir stehen."

+++ Spielerkritik: Harmloser Petric, lustloser Ilicevic, ideenloser Sala +++

Genau diesen Platz, Tabellenrang 13, gilt es für Finks Team zunächst mal in den nächsten Wochen zu sichern. Dabei dürfte beim Spiel auf Schalke am Sonntag als Sofortmaßnahme Jeffrey Bruma für den derzeit bundesligauntauglichen Rajkovic in der Innenverteidigung auflaufen. Im defensiven Mittelfeld muss Fink den gelbgesperrten David Jarolim durch Gojko Kacar oder Robert Tesche ersetzen. Und in der Offensive gelten Tolgay Arslan und Heung Min Son als mögliche Platzhalter des rotgesperrten Guerrero. Wichtiger als die personellen Wechsel dürfte aber ein Wechsel der Einstellung sein.

+++ Adler-Poker geht in Verlängerung +++

Gegen Stuttgart waren wieder über 55 000 Zuschauer im Stadion. Bisher standen die Hamburger dem Langzeitprojekt, den HSV zu verjüngen, zu verbilligen, aber auch zu verbessern, sehr wohlwollend gegenüber. Am Sonnabend verließen Tausende nach einer Stunde die Arena. Mit dem Gefühl, dass dieses Projekt bisher gescheitert ist.

Die Meinung der Matz-ab-User auf www.abendblatt.de/matzab

Mit Material von dpa