Die Wade hält. Jetzt muss Bayern-Profi Schweinsteiger bei der Europameisterschaft zeigen, dass er für Deutschland ein Führungsspieler ist.

Danzig. Via Haussender, das DFB-TV, gab Bastian Schweinsteiger gestern Abend Auskunft über die wirklich drängenden Fragen. Ja, es gehe ihm gut: "Ich bin zwar immer noch in Behandlung, kann aber ohne Probleme trainieren." Und er sei "heiß auf das erste Spiel gegen Portugal, auf das Turnier". Der Bluterguss in der linken Wade zwicke ihn nicht mehr, bei "100 Prozent" sei er aber auch noch nicht: "Ich taste mich immer mehr ran an die Spritzigkeit." Dies wäre also geklärt, nicht eben unwichtig nach der ganzen Aufregung um seinen Ausflug nach Capri am vergangenen Wochenende. Zwar hatte der Deutsche Fußball-Bund (DFB) seinem Premiumspieler den Kurztrip genehmigt und der Trainerstab sogar einen eigenen Trainingsplan für den Abstecher in die Sonne erarbeitet. Doch natürlich kam automatisch die Frage auf, ob ein Nationalspieler am Wochenende vor dem Abflug zur EM noch urlauben sollte. Zumal er noch an jener Wadenverletzung laborierte, die er im Champions-League-Finale erlitten hatte. DFB-Vizepräsident Rolf Hocke sagte gegenüber "Sport-Bild": "Die Verantwortung für seinen Capri-Trip trägt die medizinische Abteilung der Nationalmannschaft. Wenn Schweinsteiger sich bei der EM optimal präsentiert, heißt es, die Entscheidung war richtig. Wenn nicht, wird die Diskussion in die entgegengesetzte Richtung gehen." Woraufhin DFB-Teammanager Oliver Bierhoff gestern nun ein "klärendes Gespräch" ankündigte.

Der ganze Wirbel um den Capri-Trip und die anschließende Diskussion um eine derartige Nichtigkeit zeigen vor allem eins: Bastian Schweinsteiger hat sich mittlerweile einen Status in der öffentlichen Wahrnehmung erarbeitet, den zuletzt höchstens Michael Ballack für sich verbuchen konnte. Jede Geste wird genau beäugt. Als der verletzte Schweinsteiger auch für das letzte Testspiel vor der Europameisterschaft absagen musste, stöhnten Deutschlands Fans auf, und ein einst geflügelter Begriff wurde in den Redaktionen entstaubt: "die Wade der Nation".

Dieser prominente Muskel befand sich vor sechs Jahren am Unterschenkel von Michael Ballack, machte nach Belieben auf und zu und hielt die deutschen Fans in Atem, als er ausgerechnet vor dem Eröffnungsspiel der Weltmeisterschaft 2006 zwickte. Eine Muskelverhärtung mit kleinem Bluterguss schaffte es auf die Titelseiten der Zeitungen und in die ARD-"Tagesschau". Doch damals war Ballack auch der einzige Vorturner einer ansonsten nur mittelmäßig begabten Riege. Warum aber erregt Schweinsteigers Verletzung so große Aufmerksamkeit, dass gleich "die neue Wade der Nation" gekürt wurde?

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Natürlich ist er ein hervorragender Fußballspieler, daran ändert auch der verschossene Elfmeter im Champions-League-Finale gegen Chelsea nichts. Doch von seinem sportlichen Kaliber gibt es mittlerweile einige im deutschen Team. Bei Schweinsteiger allerdings vermuten die Experten etwas, das rar gesät ist - im deutschen Team und überhaupt im Fußballsport. Ihn umgibt die Aura des Anführers.

"Führungsspieler" nennt der Bundestrainer das, doch es geht weit über Joachim Löws Definition hinaus, was viele in Schweinsteiger sehen. Es istjene rare Gabe, die eigene Mannschaft kraft der Ausstrahlung stärker zu machen und den Gegner schwächer. Etwas, was früher Franz Beckenbauer hatte. Auch Oliver Kahn. Oder eben Ballack.

+++ Das Ziel kann nur der Titel sein +++

Doch bislang ist es lediglich eine Vermutung, dass auch Schweinsteiger jenen Status erlangen kann, den die Größten des deutschen Fußballs innehatten. Sein Können mit dem Ball steht außer Frage, doch der Aufstieg in die Riege "Kaiser", "Titan" und "Capitano" ist fraglich. Mit 27 Jahren ist dafür zwar noch etwas Zeit für den Aufstieg in den Fußball-Olymp, aber wenn Schweinsteiger sich bei der EM in Polen und der Ukraine zum nächsten Schritt in seiner bemerkenswerten Karriere durchringen könnte, wäre ihm wohl niemand böse im DFB-Tross.

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Wegen seiner charismatischen Art stand er von jeher unter besonderer Beobachtung - und mitunter in der Kritik. Noch vor einem Jahr musste Bundestrainer Löw seinem Ersatzkapitän energisch zur Seite springen. Ausgerechnet Oliver Kahn hatte eine pikante Diskussion eröffnet und Schweinsteiger wie auch Philipp Lahm Mangel an Führungskraft vorgeworfen, gar behauptet, den beiden sei ihr Image wichtiger als der Erfolg.

Löw konterte damals mit einer eindeutigen Festlegung: "Niemand von all den ehemaligen Nationalspielern, die sich jetzt in der Führungsspielerdiskussion kritisch äußern, war in seinem Alter nur annähernd so weit mit seinen Führungsqualitäten wie jetzt Lahm und Schweinsteiger."

Doch Kahns Kritik hatte vor allem Schweinsteiger an einer ganz empfindlichen Stelle getroffen. Einige Wochen zuvor hatte die "Sport-Bild" den Bayern-Profi bereits als "Chefchen" verspottet. Das brachte den Geschmähten derart in Rage, dass er einen Reporter der Zeitschrift bei einer Pressekonferenz in München als "Arschloch", "Pisser" und "Lügner" beschimpfte. Der Vorstandsvorsitzende des FC Bayern, Karl-Heinz Rummenigge, meldete sich zudem per Presseerklärung zu Wort und kanzelte den "Chefchen"-Vorwurf als "unerhört und eine Frechheit" ab. Nun aber ist es an der Zeit: Schweinsteiger muss bei der EM zeigen, ob er wirklich ein Chef ist.

Beweisen kann er es erstmals am Sonnabend im Auftaktspiel gegen Portugal. Den Rest hat Bastian Schweinsteiger selbst in den Händen. Beziehungsweise den Waden.

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