Der Uefa-Präsident fürchtet eine Pleitewelle in den europäischen Topligen. Die Vergabe der EM nach Polen und der Ukraine verteidigt der Franzose.

Nyon. Er sorgte maßgeblich dafür, dass die Europameisterschaft 2012 in Polen und der Ukraine stattfindet: Michel Platini . Der 56 Jahre alte Franzose, der seit 2007 Präsident des europäischen Fußballverbandes Uefa ist, verteidigt im Interview mit dem Abendblatt die umstrittene Vergabe nach Osteuropa. Sportlich wie atmosphärisch erwartet Platini ein großes Turnier. Sein größter Erfolg als aktiver Fußballspieler war auch eine EM: 1984 schoss er bis heute unerreichte neun Tore in fünf Spielen und führte Frankreich im eigenen Land zum Titel.

Hamburger Abendblatt: Monsieur Platini, wer wird Europameister?

Michel Platini: Ich halte Deutschland derzeit für das beste Team Europas. Sehr jung, sehr kreativ. Kein Punktverlust in der Qualifikation. Ihr seid die großen Favoriten für die Europameisterschaft, zusammen mit Spanien. Aber das heißt nicht, dass eines der beiden Teams gewinnt. Es ist nur am wahrscheinlichsten. Es gibt mehrere Mannschaften, die schwer zu besiegen sind. Italien, England, Dänemark, Niederlande - die sind genauso in der Lage zu gewinnen. Von der Qualität her sind Deutschland und Spanien die besten Teams. Aber das heißt noch nichts. Wenn ich mir allein die Vorrundengruppe der Deutschen angucke - o, là, là! Niederlande, Dänemark, Portugal, das ist hart.

Sehen Sie einen neuen Michel Platini im deutschen Team?

Platini: Einen Platini? Spieler wie ich und Franz Beckenbauer gehören heute ins Museum. Spielgestalter wie wir damals sind doch heute gar nicht mehr gefragt. Zinedine Zidane war die letzte wahre Nummer zehn. Dort spielt heute ein Mesut Özil. Ein Spieler, der mehr läuft als ich damals in drei Spielen. Er ist ein sehr guter Spieler, aber er ist überall, nicht nur im Zentrum. Solche Spieler brauchst du für das moderne Spiel. Ich mag auch Spieler wie Thomas Müller. Und Manuel Neuer. Deutschland hat immer tolle Torhüter.

Wie steht es um die französische Mannschaft?

Platini: Wir haben eine große Generation hinter uns. Nun müssen wir ein neues Team aufbauen. Wir haben zwei, drei wirklich gute Spieler wie Karim Benzema und Franck Ribéry. Der Rest ist so lala.

Haben die Franzosen das dramatische Ausscheiden in der Vorrunde der WM 2010 in Südafrika verkraftet?

Platini: Ein Vorrundenaus ist nicht dramatisch. Aber wenn die Spieler das Training verweigern, weil Nicolas Anelka suspendiert wurde, der den Trainer beleidigt haben soll - das ist dramatisch. Das war ein Desaster für den französischen Fußball.

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Was erwarten Sie generell von der Europameisterschaft?

Platini: Es wird ein großes Turnier werden, eine wunderschöne Europameisterschaft.

Sportlich gesehen?

Platini: Nicht nur. Auch die Stadien in Polen und der Ukraine sind wunderbar. Die Atmosphäre wird toll sein. Ich gebe zu, dass es eine große Herausforderung ist, in diesen beiden Ländern eine EM durchzuführen. Aber gleichzeitig eine großartige Aufgabe.

Aber die infrastrukturellen Probleme, speziell in der Ukraine, sind nicht wegzudiskutieren.

Platini: Ja, es gab Probleme, es gibt Probleme. Die nehmen wir ernst. Es war von Anfang an eine Herausforderung, dort ein so großes Turnier durchzuführen - für uns und für die Länder. Es war nicht einfach. Wir wissen, dass wir dort nicht Verhältnisse wie in Deutschland, Frankreich oder England haben. Aber wir haben dort Menschen, die bereit sind, alles zu tun, um die EM zu einem wunderbaren Turnier zu machen.

Warum wurde dieses Wagnis eingegangen und die EM nicht in eine weiterentwickelte Region vergeben?

Platini: Weil Polen und die Ukraine genauso zur Uefa-Familie gehören wie Deutschland oder Frankreich. Weil die Menschen es verdient haben. Weil es gerade den besonderen Reiz ausmacht, keine perfekten Bedingungen vorzufinden. Die Fans, die dorthin kommen werden, erwarten doch gar keine Fünf-Sterne-Hotels. Sie wollen schönen Fußball sehen und mit ihresgleichen feiern.

Aber in Städten wie Charkow oder Lemberg sind teilweise gar keine Hotelzimmer mehr zu bekommen.

Platini: Es gibt Zimmer. Vielleicht nicht in der Qualität wie in Mitteleuropa. Aber es wurden Unterkünfte geschaffen, und jeder, der kommen will, wird ein Bett und ein Dach über den Kopf bekommen. Es wurden Studentenheime umgebaut, Campingplätze geschaffen.

Die Ukraine hat eine bewegte politische Vergangenheit hinter sich. Julia Timoschenko, die frühere Premierministerin, ist immer noch inhaftiert. Muss so etwas nicht in die Überlegungen einfließen, wenn ein großes Turnier zu vergeben ist?

Platini: Als die EM 2007 vergeben wurde, war Julia Timoschenko gerade dabei, an die Regierungsspitze aufzusteigen. Natürlich ist es schwierig, wenn die politischen Verhältnisse instabil sind. Aber was sollen wir machen? Die EM nicht in Länder wie die Ukraine vergeben, weil nicht alles so gefestigt ist wie in westeuropäischen Demokratien? Das ist keine Lösung.

Können Sie die Spiele überhaupt als Fan genießen, oder müssen Sie als Uefa-Präsident immer eine Rolle spielen?

Platini: Das ist eine gute Frage. Manchmal möchte ich vergessen, dass ich als Uefa-Präsident im Stadion sitze. Dann möchte ich einfach Fußballfan sein. Aber am Ende bin ich verantwortlich dafür, dass alles klappt.

Haben Sie sich dennoch den kindlichen Blick auf das Spiel erhalten?

Platini: Ja, das muss ich sogar.

Warum müssen Sie?

Platini: Für mich ist Fußball ein Spiel. Alles, was drumherum geschieht, geschieht nur wegen des Spiels. Ich muss dieses Spiel beschützen, und darum darf ich nicht vergessen, es mit unverstelltem Blick zu betrachten. Der Fußball hat sich seit Jahrzehnten nicht verändert. Aber das Umfeld hat sich extrem geändert. Die immense Popularität des Fußballs bringt viel, viel Geld in Bewegung. Geld bringt Verpflichtungen mit sich. Denn Geld zieht auch die Leute an, die Geld mögen. Und diese Menschen wollen immer noch mehr Geld haben. Das bedroht den Fußball. Darum muss ich versuchen, in die Zukunft zu sehen und dort die Gefahren zu erkennen

Gefahren?

Platini: Ja, der Fußball ist in großer Gefahr. Er ist in Gefahr, seine Popularität aufs Spiel zu setzen. Wenn in den ersten Ligen Europas im Jahr 2010 insgesamt 1,6 Milliarden Euro Schulden gemacht wurden, hat der Fußball ein großes Problem. Vereine werden pleitegehen. Das ist in Deutschland vielleicht kein so drängendes Problem, weil die Bundesliga mit ihrem Lizenzierungsverfahren ein gutes Instrument gegen diesen Wahnsinn hat. Aber außerhalb der deutschen Grenzen droht ein Desaster.

Das Sie mit Financial Fairplay abwenden wollen.

Platini: Dafür haben wir dieses System entwickelt, ja. Wir wollen die Schulden damit drastisch reduzieren. Um die Klubs zu retten - und nicht, weil wir ihnen schaden wollen.