Jerome Boateng spielte mit Superstar Balotelli in Manchester. Im Abendblatt spricht der Ex-HSV-Profi über die schwersten Tage seiner Karriere.

Danzig. Im Nebenhaus des Mannschaftshotels Dwor Oliwski geht es drunter und drüber. In der einen Ecke sitzt Mario Gomez mit einer Gruppe von Journalisten, gleich nebenan muss Lukas Podolski über seine Erfahrungen mit Italien referieren. Es ist laut, fast schon zu laut. Jerome Boateng bittet das Abendblatt in den nebenan liegenden Besprechungsraum, wo vor den Spielen Joachim Löw seine Taktikbesprechung macht. In der Mitte des Raums steht eine Taktiktafel mit Magnetspielern. "Hallo, was macht Hamburg?", fragt der frühere HSV-Profi und setzt sich.

Hamburger Abendblatt: Herr Boateng, wie man Italien in einem EM-Halbfinale schlägt, dürfte kaum einer so gut wissen wie Sie, oder?

Jerome Boateng: Wenn Sie das Halbfinale der U21-EM vor drei Jahren in Schweden meinen, dann haben Sie natürlich recht. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass wir vor allem in der ersten Halbzeit ganz schön unter Druck waren. Besonders bei Standards waren die Italiener immer gefährlich, aber Manuel Neuer hat schon damals super gehalten. Und das Tor des Tages hat dann Andreas Beck geschossen.

Wenige Tage später wurde Deutschland U21-Europameister. Darf man im Nachhinein von einer goldenen Generation sprechen?

Boateng: Von einer goldenen Generation darf man nur sprechen, wenn wir auch mit der A-Nationalmannschaft den Titel gewinnen. Und für dieses Ziel müssen wir zunächst mal am Donnerstag Italien schlagen.

Darf man denn behaupten, dass der Titel von damals die Basis für einen möglichen Titel von heute ist?

Boateng: Das kann man so sagen. Unser Trainer Horst Hrubesch hat uns damals gezeigt, wie man einen Titel gewinnt. Er hat uns quasi das Sieger-Gen eingepflanzt. Und es waren ja viele Spieler unseres heutigen Teams dabei: Manuel Neuer, Sami Khedira, Mesut Özil, Mats Hummels, Benedikt Höwedes und ich. Wir spielen schon lange zusammen, kennen uns auf dem Platz und abseits des Platzes sehr gut. Aber auch bei Italien war der eine oder andere damals dabei, zum Beispiel Mario Balotelli.

Den kennen Sie ja auch aus Ihrer gemeinsamen Zeit bei Manchester City. Ist er wirklich so verrückt, wie behauptet wird?

Boateng: Genie und Wahnsinn liegen bei ihm schon sehr nahe beieinander. Er ist wirklich ein verrückter Typ, mal positiv verrückt, mal aber auch negativ. Er scheint es manchmal zu genießen, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Alles in allem ist er aber ein guter Mensch. Das kann ich so sagen, weil ich ihn sehr viel besser kenne als viele andere. Bei allen seinen Geschichten sollte man nie vergessen, dass er fußballerisch fantastisch ist. Für sein Alter ist er schon unglaublich weit.

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Wie muss man gegen ihn verteidigen?

Boateng: Man muss sehr aggressiv und präsent sein, ihn schon bei der Ballannahme stören. Auf gar keinen Fall sollte man ihn schießen lassen, weil er einen wirklich fantastischen Schuss hat.

Das hat man auch beim Elfmeterschießen gegen England gesehen, wo er als erster Schütze Verantwortung übernahm.

Boateng: Also eines kann man auf jeden Fall festhalten: Mario Balotelli hat vor nichts und niemandem Angst. Nicht vor den Medien, nicht vor seinem Trainer und schon gar nicht vor Druck- oder Stresssituationen.

Nicht mal vor Ihnen scheint er Angst zu haben. In Ihrer gemeinsamen City-Zeit kam es sogar zu einer Rangelei zwischen Ihnen beiden auf dem Platz.

Boateng: Ich erinnere mich, aber die Geschichte war nach wenigen Minuten wieder vergessen. Wir haben uns die Hand geschüttelt, und weiter ging's.

Ganz so einfach lässt sich aber nicht jeder seiner Konflikte regeln. Häufig wirkt er wie eine tickende Zeitbombe.

Boateng: Er muss aufpassen, dass seine Eskapaden nicht überhand nehmen und ihn irgendwann niemand mehr ernst nimmt. Sportlich gibt es allerdings keine Zweifel an seinen Qualitäten. Er braucht sie ja nicht unbedingt im Spiel gegen uns abzurufen.

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Auch Sie haben mit Ihrem nächtlichen Hotelausflug kurz vor der EM Schlagzeilen außerhalb des Fußballplatzes produziert. Hat Sie die Kritik des Bundestrainers danach getroffen?

Boateng: Die Kritik des Trainers hat mich überhaupt nicht getroffen. Ich habe mit ihm über den Vorfall gesprochen und ihm erklärt, wie der Vorfall wirklich abgelaufen ist.

Und was ist wirklich abgelaufen?

Boateng: Darüber möchte ich nicht mehr im Detail sprechen. Der Trainer, das Team und alle jene Menschen, die mir persönlich sehr wichtig sind, kennen die ganze Wahrheit.

Fühlten Sie sich reingelegt?

Boateng: Ja, aber noch mal: Die Sache ist erledigt. Meine Familie hat mir danach geholfen, mich nur noch auf Fußball zu konzentrieren. Mich hat die Geschichte sogar zusätzlich angespornt. Ich wollte zeigen, dass ich klar im Kopf und fokussiert auf die EM bin.

Waren es im Nachhinein die schwersten Tage Ihrer Karriere?

Boateng: Das kann man schon so sagen. Auf mir lastete ein enorm großer Druck vor dem Duell gegen Portugal. Dass ich diesem Druck standgehalten habe, hat mich dann für den Rest der EM umso stärker werden lassen.

Haben Sie aus dem Vorfall gelernt?

Boateng: Ich weiß jetzt, wer meine wirklichen Freunde sind und wer nicht.

Vor der WM 2010 war Ihr Bruder Kevin-Prince in den Schlagzeilen, jetzt Sie.

Boateng: Das mag stimmen, ist aber Zufall. Ich hatte jedenfalls nicht vor, großartig in die Schlagzeilen zu geraten. Vor dem nächsten Turnier in Brasilien sollte dann Ruhe sein, hoffentlich sind wir da beide wieder dabei.

Kevin-Prince spielt seit zwei Jahren beim AC Mailand. Haben Sie wegen des Italien-Spiels schon telefoniert?

Boateng: Ich werde ihn sicherlich noch mal die Tage anrufen, aber da braucht er mir keine großen Tipps für das Spiel zu geben. Dafür haben wir unsere Scoutingabteilung.

Was hat er Ihnen generell über den italienischen Fußball erzählt?

Boateng: Er fühlt sich wahnsinnig wohl in Mailand, ist dort Publikumsliebling. Trotz der ganzen Geschichten rund um den neuen Wettskandal habe ich schon das Gefühl, dass der italienische Fußball im Aufwind ist. Die Liga ist stärker als noch vor ein paar Jahren.

Vor sechs Jahren hat Italien im WM-Halbfinale Deutschland geschlagen und wurde anschließend Weltmeister. Wie haben Sie das Spiel verfolgt?

Boateng: Ich war damals 17, habe das Spiel mit Freunden vor dem Fernseher verfolgt. Und natürlich war das eine ganz bittere Niederlage, auch für mich. Ich habe sehr viele italienische Freunde, die mich danach alle gefrotzelt haben. Da wäre es mir schon lieber, wenn das nach dem Spiel am Donnerstag nicht noch mal passiert. Zumal ich ja diesmal sogar auf dem Rasen dabei bin.

Man wusste, dass die Italiener in der Defensive gut stehen. Im Viertelfinale haben sie auch ihre offensiven Qualitäten gezeigt.

Boateng: Das stimmt, aber in erster Linie scheint mir das Hauptaugenmerk der Italiener auf der Defensive zu liegen. Sie stehen sehr kompakt, stets im richtigen Abstand und können mehrere Systeme spielen. Erst haben sie mit einer Dreierkette gespielt, dann haben sie auf die herkömmliche Viererkette umgestellt. Gegen diese Italiener wird uns mit Sicherheit alles abverlangt.