Gezittert, gelitten und dann grenzenlos gejubelt: Philipp Lahm hat die deutsche Fußball-Nationalmannschaft zum sechsten Mal in ein EM-Endspiel geführt.

Basel. Mit seinem dritten Länderspiel-Treffer in der 90. Minute zum glücklichen 3:2 (1:1) gegen bärenstarke Türken erlöste der Bayern-Abwehrspieler am Mittwoch Fußball-Deutschland und verhinderte einen zweiten Halbfinal-Alptraum wie vor zwei Jahren bei der WM. Die schwarz-rot-goldene Party geht damit weiter bis zum Finale, in dem am Sonntag der Sieger des Duells Spanien gegen Russland der Gegner ist.

Vor 39 374 Zuschauern im Baseler St. Jakob-Park, darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel, hatte Bastian Schweinsteiger (26.) die türkische Führung durch Ugur Boral (22.) postwendend wettgemacht. Nach dem 2:1 durch Miroslav Klose (79.) bewiesen die Türken beim dritten Turniertor von Semih Sentürk (86.) einmal mehr ihre unglaubliche Fähigkeit, scheinbar schon verlorene Spiele noch aus dem Feuer zu reißen. Mit dem Einzug ins Endspiel sind jedem Akteur bereits jetzt 150 000 Euro Prämie sicher, bei einem Sieg am Sonntag in Wien kommen weitere 100 000 dazu.

Der erste Länderspiel-Sieg gegen die Türken seit 16 Jahren war allerdings ein ganz hartes Stück Arbeit. Denn über weite Strecken fand die deutsche Mannschaft überhaupt keine Einstellung zum Gegner, der taktisch sehr diszipliniert auftrat und erneut tolle Moral bewies. Die von Bank-Rückkehrer Joachim Löw nach der Devise "Never change a winning team" in der Besetzung vom Portugal-Sieg aufs Feld geschickte Elf stand dem türkischen 4-1-4-1-System beinahe hilflos gegenüber, ging aber auch nicht energisch genug in die Zweikämpfe. Die Abwehr wirkte oft ohne Orientierung und stürzte von einer Verlegenheit in die andere. Philipp Lahm bekam Kazim nicht richtig in den Griff und auch Arne Friedrich auf der rechten Seite hatte gegen den Torschützen Ugur große Probleme. Selbst Christoph Metzelder und Per Mertesacker verloren beim nicht erwarteten Druck der Türken mehrfach die Übersicht.

Während Lukas Podolski erneut ein starkes Spiel lieferte und ebenso wie Schweinsteiger keinen Ball verloren gab, konnte Michael Ballack überhaupt keinen Einfluss auf die Partie nehmen. Der Kapitän hatte in Mehmet Aurelio einen unerbittlichen Gegenspieler, der ihm keinen Zentimeter Raum schenkte. Gar nicht in die Partie fand Simon Rolfes, der die Ballsicherheit vermissen ließ. Wegen einer Platzwunde an der Schläfe blieb der Leverkusener zur Pause in der Kabine und wurde durch Torsten Frings, der neun Tage nach seinem Rippenbruch aus der Österreich-Partie sein Comeback feierte. Der Bremer musste gleich in den Zweikampf-Test und mithelfen, die Löcher zu stopfen.

Rund 18 000 deutsche Fans, die beim ersten EM-Halbfinale einer DFB-Auswahl seit zwölf Jahren Heimspiel-Atmosphäre verbreiteten, fühlten sich lange Zeit an die Leistung der Mannschaft im Kroatien-Spiel erinnert. Während die durch die Ausfälle von neun verletzten oder gesperrten Spielern personell arg geschwächten Türken respektlos in die Partie gingen, ließ die in Bestbesetzung spielende deutsche Elf jegliche Ordnung vermissen. Eine Unaufmerksamkeit von Lahm, der dem einmal mehr überragenden Hamit Altintop den Ball zur ersten Torchance auflegte (8.), beschwor erste Gefahr vor Jens Lehmann herauf. In der 13. Minute drohte nach einem kollektiven Blackout ein früher Rückstand, doch Kazim jagte den Ball aus 14 Metern gegen die Latte. Anschließend zielte Semih knapp am deutschen Tor vorbei.

Wenig später gingen die Kicker mit dem Halbmond auf dem roten Trikot, die dreimal im Turnierverlauf einen schier aussichtslosen Rückstand aufgeholt hatten, zum ersten Mal vor der Pause selbst in Führung. Nach einem weiten Einwurf und Flanke von Sabri fühlte sich niemand in der deutschen Abwehr für Kazim zuständig, der erneut an der Latte scheiterte. Diesmal drückte Ugor den Abpraller zum hoch verdienten 1:0 über die Linie. Doch nur vier Minuten später führte gleich der erste gelungene Spielzug der Löw-Elf zum Ausgleich. Wie beim Führungstor gegen Portugal setzte sich Podolski auf der linken Seite durch und passte präzise zur Mitte, wo sein Teamkollege Schweinsteiger per Direktabnahme erfolgreich war und seinen zweiten Turnier-Treffer markierte. Nach einem schnellen Konter verpasste Podolski (34.) nach seinem Solo sogar die mögliche Führung, als er selbst den Abschluss suchte statt auf Klose abzuspielen.

Dass Löw an seinem 4-2-3-1-System festhielt, zahlte sich auch zu Beginn der zweiten 45 Minuten nicht aus. Sechs Minuten nach Wiederbeginn forderte die deutsche Mannschaft vergeblich einen Elfmeterpfiff vom Schweizer Schiedsrichter Massimo Busacca, nachdem Sabri den Vorstoß von Lahm im Strafraum nur regelwidrig bremsen konnte (51.). Während die DFB-Auswahl weiter ohne Konzept spielte und mit Distanzschüssen wie dem von Thomas Hitzlsperger (73.) ihr Glück suchte, blieben die Türken das Team mit mehr Ballsicherheit.