Hamburg. Kaffee und Gummibärchen: Der Hamburger Bundesliga-Referee Patrick Ittrich erklärt den Job des umstrittenen Video-Assistenten.

Immer Ärger um die Video-Schiedsrichter. Diesen Eindruck hatte man in den vergangenen Wochen in der Fußball-Bundesliga. Warum greift er in manchen Situation ein, oder warum tut er das gerade nicht? Seit in der Bundesliga vor anderthalb Jahren der Videobeweis eingeführt wurde, gibt es Diskussionen um die Assistenten im sogenannten Kölner Keller.

Der Hamburger Patrick Ittrich (39) ist einer der 26 DFB-Schiedsrichter, die in der Bundesliga pfeifen und auch in Köln als Video Assistant Referee (VAR) eingesetzt werden. Zweitligaschiedsrichter können nur als assistierende Video-Assistenten (AVA) eingesetzt werden, das wird sich in Zukunft aber wahrscheinlich ändern. 1250 Euro erhält ein VAR pro Einsatz. Im Abendblatt-Interview schildert Itt­rich die Arbeit, die Anforderungen und Aufgaben des Video-Assistenten. Der NDR zeigt am Sonntag (23.35 Uhr) in der „Sportclub Story“ eine Reportage über den Schiedsrichter.

"Das stärkt den Teamgedanken"

Herr Ittrich, wie sieht Ihr Arbeitstag als Video-Assistent normalerweise aus?

Patrick Ittrich: An einem Sonnabend bin ich spätestens um 13.20 Uhr in Köln im Videocenter. Deshalb reise ich meist schon am Vorabend an. Dann zieht man sich um. Mittlerweile haben wir das gleiche Trikot an, das auch der Schiedsrichter trägt. Unsere Arbeitskleidung. Das stärkt den Teamgedanken. Um 13.30 Uhr betritt das Schiedsrichterteam den Rasen. Dann findet der erste Check statt, ob die Kommunikation funktioniert. Man hört sich danach erst wieder, wenn der Schiedsrichter zum Warmlaufen geht, das ist um 15 Uhr der Fall. Ich habe also anderthalb Stunden Zeit, im Nebenraum Situationen durchzugehen, mich mit den Kollegen auszutauschen und mich auf das Spiel vorzubereiten. Dazu gibt es auch Kaffee und Gummibärchen. Um 17.20 Uhr ist Abpfiff. Wenn nichts ist, kannst du nach Hause fahren. Wenn etwas Außergewöhnliches war, dann bereitet man sofort nach. Aber in der Regel bin ich gegen 0.30 Uhr wieder in Hamburg.

Es heißt ja oft, dass die Video-Assistenten im „Kölner Keller“ sitzen. Wie müssen wir uns das genau vorstellen?

Das Video-Assist-Center VAC befindet sich im Broadcast Centrum in Köln-Deutz und dort tatsächlich im Keller. Die sechs Arbeitsstationen sind u-förmig angeordnet. Davon werden für die Bundesliga alle genutzt. In der Mitte sitzen ein Beobachter für die Video-Assistenten und ein Beobachter für die Operatoren, die uns die Bilder zur Verfügung stellen.

Wie sehen diese Arbeitsstationen aus?

An jeder Station arbeiten vier Leute: der Video Assistant Referee (VAR, d. Red.), und dessen Assistent (AVA, die Red.). Und zwei Bild-Operatoren. Wir sitzen an einer Station vor vier Monitoren.

Drei Sekunden zeitverzögert

Wie ist der konkrete Ablauf?

Oben links ist das normale Livebild. Auf das schaue ich als VAR. Oben rechts ist das Livebild, das der Sender einspeist. Unten links befindet sich ein Touchscreen-Monitor, wo diverse Bilder gleichzeitig dargestellt werden können. Dort rufen wir bei einer Angriffssituation unter anderem die Abseitskameras auf. Diese Bilder kommen drei Sekunden zeitverzögert.

Warum das?

Ich sage meinem Assistenten zum Beispiel: „Check Abseits, wenn Tor.“ Dann schaut der gleich nach unten, weil es ja zeitversetzt ist. Ist es kein Abseits, sagt er sofort: „Kein Abseits. Check beendet.“

Und wenn es nicht so einfach ist?

Ich habe eine Liste mit allen Kamerapositionen. Je häufiger man das macht, desto besser weiß man, welche Kamera man in welcher Situation am besten nutzen kann. Das ist wichtig bei kritischen Situationen im Strafraum wie Hand oder Foul. Mit der Zeit bekommt man immer mehr ein Gefühl dafür, wo etwas passiert sein könnte. Ich sage dem Operator im Idealfall, welches Bild er mir einspielen soll. Sehr oft stellt mir der Operator die richtige Kamera schon von sich aus zur Verfügung.

Pool von Leuten

Ohne die Operatoren ginge also nichts?

Ja, das ist ein Pool von Leuten, die auch jedes Wochenende da sind. Sie haben alle Kameras, die es im Stadion gibt, zur Verfügung. Der Operator eins hat die wichtigsten Kameras vor sich. Operator zwei schiebt die anderen Bilder rüber, wenn sie gebraucht werden.

Was macht der Assistent des Video-Assistenten, der AVA?

Er hilft dem Video-Assistenten Situationen zu beurteilen. Aber er ist auch für das Administrative zuständig. Alles, was passiert, muss aufgeschrieben werden. Jeder Check mit welcher Kameraperspektive und wie lange es gedauert hat. Der wichtigere Teil ist: Wenn ich eine Situation in einem laufenden Spiel checke, muss er weiter das Spiel verfolgen, da kann ja etwas anderes passieren.

Wie lange nachträglich kann man denn eingreifen, wenn zum Beispiel ein Strafstoß übersehen wurde?

Bis das Spiel nach der nächsten Unterbrechung fortgesetzt wird. Passiert in einer Angriffsphase vor einem Tor ein strafbares Foulspiel, das der Schiedsrichter nicht gesehen hat, dann müssen wir eingreifen. Egal, wo das Foul stattgefunden hat. Folgendes Szenario könnte also auch eintreten: Strafstoß auf der einen Seite nicht gepfiffen, Gegenangriff, Tor. Dann muss das Tor zurückgenommen und auf der anderen Seite Elfmeter gegeben werden.

"Tor korrekt"

Gibt es zum Schiedsrichter auf dem Platz einen ständigen Kontakt? Auch wenn Sie aus Köln für den Zuschauer nicht erkennbar einschreiten?

Ja. Es kommt immer ein Feedback: „Tor korrekt.“ Oder eben: „War Abseits.“ Auch bei einer Strafstoßentscheidung, die klar und eindeutig ist wie neulich beim Spiel Dortmund gegen Bayern im Zweikampf zwischen Manuel Neuer und Marco Reus kommt für den Schiedsrichter eine schnelle Bestätigung. Wir sind inzwischen Kommunikationsprofis. Wir beschreiben als Schiedsrichter die Situation, die wir wahrnehmen. Das ist ganz wichtig. Früher haben wir gepfiffen und fertig. Jetzt müssen wir pfeifen und gleichzeitig dem Video-Assistenten erklären, warum wir gepfiffen haben und was wir gesehen haben.

Was ist, wenn der Schiedsrichter keine Wahrnehmung hat?

Dann ist das Kriterium für den Eingriff des VAR niederschwelliger. Beispiel: Schuss aufs Tor, klares Handspiel. Wenn der Schiedsrichter das nicht wahrnimmt, muss der Video-Assistent dem Schiedsrichter empfehlen, sich die Szene noch einmal selbst am Spielfeldrand in der Review-Area anzusehen. Wenn er das Handspiel sieht, aber so bewertet, dass es kein strafbares Handspiel war, dann ist die Eingriffsschwelle für den Video-Assistenten viel, viel höher. Also muss der VAR für sich abwägen, ob er eingreift oder nicht. Ob dem Kollegen ein klarer und offensichtlicher Fehler unterlaufen ist. Nur dann soll der Video-Assistent eingreifen. Die letzte Entscheidung trifft aber immer der Schiedsrichter auf dem Spielfeld selbst.

Hat dort ein Lernprozess eingesetzt? Man hatte den Eindruck, dass am Anfang viel öfter aus Köln eingegriffen wurde – wie von einem Oberschiedsrichter.

So ein System muss sich entwickeln. Dass Gefühl eines Oberschiedsrichters soll nicht entstehen, deshalb soll der Video-Assistent nur bei klaren und offensichtlichen Fehlentscheidungen eingreifen und den Schiedsrichter unterstützen. Der Fußball wird dadurch ein Stück gerechter – mit den Emotionen, die zu diesem Sport gehören. Trotzdem wird es im Fußball immer Graubereiche mit Interpretationsfragen geben. Man darf nicht vergessen: Auch im Video-Assist-Center in Köln sitzen Menschen, die Fehler machen können.

Hat der Video-Assistent das Schiedsrichterverhalten verändert?

Bei Abseits sind die alten Faustregeln: „Im Zweifel für den Angreifer“ und „gleiche Höhe“ außer Kraft gesetzt. Das ist eine Entscheidung, die faktisch ist. Auch bei einer Fußspitze, die im Abseits steht. Wir können das mit den kalibrierten Linien inzwischen eindeutig beurteilen. Die Linie ist absolut verlässlich und lässt sich sogar dreidimensional darstellen. Das heißt: Wir können sie auch vom Boden hochziehen, um zu erkennen, ob der Oberkörper im Abseits ist oder nicht.

Kommen Abseitsentscheidungen deshalb neuerdings später? Weil sich die Schiedsrichter-Assistenten an der Linie darauf verlassen, dass Köln hinschaut und sich bei Bedarf meldet?

Es ist so, dass der Schiedsrichter-Assistent im Spiel die Fahne bei knappen Abseitssituationen so lange unten lässt, bis das Spiel unterbrochen ist. Erst wenn der Ball im Tor ist, wird die Fahne gehoben. Dieses verzögerte Fahnenzeichen ist eine klare Anweisung und absolut sinnvoll. Weil man dann nachprüfen kann. Hebt der Schiedsrichter-Assistent die Fahne, bevor der Ball im Tor ist und der Schiedsrichter pfeift, kann man die Situation nicht mehr zurückholen. Auch wenn ein Fehler passiert ist.

Was ist nach einem Spiel? Werden die Einsätze der Video-Assistenten noch einmal nachbereitet?

Selbstverständlich. Wir besprechen alle relevanten Szenen nach. Wir haben auch ein internes Internet-Tool, in dem alle relevanten Szenen mit Video und Beschreibung eingestellt sind. Gibt es noch speziellere Fälle, dann telefoniert man mit VAR-Projektleiter Jochen Drees. Alles wird innerhalb einer Woche nachgearbeitet.