Heute werden die Spiele der Fußball-Europameisterschaft 2012 ausgelost. Das Abendblatt traf Boxweltmeister Vitali Klitschko in Kiew.

Blau-grau melierter Teppichboden, ein dunkler Wandschrank für die Jacken, ein Empfangstresen aus Milchglas und ein kleines Ledersofa für Gäste. Die Räume im sechsten Stock des "Segels", wie Kiews Einwohner das moderne Bürogebäude mitten im Zentrum nennen. Hier, sagt Natalya Pavlova, Vitali Klitschkos Assistentin, solle man warten. Vitali sei gelandet und gleich da.

Boxweltmeister Vitali Klitschko, 40, ist nicht nur einer der berühmtesten Einwohner Kiews, er ist auch einer der am meisten beschäftigten. Neben seiner Karriere als Profiboxer hat der dreifache Familienvater eine soziale Stiftung gegründet, ist im Organisationskomitee der Fußball-Europameisterschaft 2012 und engagiert sich seit fünf Jahren in der Politik. Spätestens seit klar ist, dass sich der Sportwissenschaftler 2012 bei den Parlaments- und Bürgermeisterwahlen in Kiew zur Wahl stellt, ist Klitschko nicht nur bei Sportjournalisten gefragter Gesprächspartner. In diesem Moment allerdings ist der Vorsitzende der UDAR-Partei (Ukrainische demokratische Allianz für Reformen) vor allem eines: zu spät.

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Eine Stunde später stürmt Pavlova erneut ins Büro. "Er ist da. Er ist jetzt da", sagt die zierliche Ukrainerin, hinter der wenige Sekunden später ein zwei Meter großer Baumstamm Wurzeln schlägt. "Guten Tag, wie geht es Hamburg?", fragt Klitschko. Viel Zeit habe er leider nicht, sagt Klitschko, er müsse noch zum Stadion, "Sie wissen schon, die Europameisterschaft".

Hamburger Abendblatt: Herr Klitschko, wenn Sie einen Los-Wunsch frei hätten, würden Sie sich Deutschland als Gruppengegner der Ukraine wünschen oder das genaue Gegenteil?

Vitali Klitschko: Ich würde mich sehr freuen, wenn wir auf Deutschland träfen, aber bitte erst im Finale.

Wie kann die Ukraine am besten von diesem Turnier profitieren?

Die Europameisterschaft ist eine Visitenkarte für unser Land. Ich hoffe, dass viele Touristen in die Ukraine kommen, um nicht nur Fußball zu sehen, sondern auch das Land zu erkunden. Nelson Mandela hat einmal gesagt, dass Sport die Kraft hat, die Welt zu verändern. Es wäre schön, wenn sein Satz auch im Sommer noch Gültigkeit hätte.

Klitschkos persönliches Büro, von dem aus der Boxer seinen bislang schwersten Kampf führt, ist sehr viel stilvoller eingerichtet als das funktionale Eingangszimmer. Auf den beiden Schreibtischen - seinem und dem von Bruder Wladimir - stehen Apple-Computer, an der Wand hängt ein Plasmafernseher. Im Wandregal liegen neben jeder Menge Bücher auch drei Fußbälle - von hier aus bereitet er seinen politischen Feldzug gegen Präsident Viktor Janukowitsch vor.

Beunruhigt es Sie gar nicht, dass Präsident Viktor Janukowitsch, gegen den Sie bei den kommenden Parlamentswahlen antreten wollen, von einer perfekt organisierten EM profitieren könnte?

Bitte entschuldigen Sie, aber ich will gar nicht so viel über diesen Präsidenten reden, sondern lieber über die Ukraine und ihr Volk. Und ich bin mir sicher, dass unser Volk von dieser Europameisterschaft profitieren wird. Nicht wegen des Präsidenten, sondern trotz des Präsidenten.

Sie selbst haben das politische System in der Ukraine mit dem diktatorischen Regime in Weißrussland verglichen.

Diese Befürchtung habe ich auch weiterhin. Es gibt keine politische Gesprächskultur zwischen den Politikern, die an der Macht sind, und der sogenannten Opposition. Wenn man den politischen Gegner aus machtpolitischen Gründen ins Gefängnis steckt, kann man schon von einem totalitären Regime sprechen. Die Ukraine ist auf dem Weg in eine Diktatur. Die ganze Welt hat doch gesehen, dass unsere ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko Opfer eines Schauprozesses wurde, in dem es nicht um Gerechtigkeit, sondern um Macht ging.

Nach der Verurteilung Timoschenkos, der man Misswirtschaft vorgeworfen hat, gab es internationale Proteste. Wie hat man die in der Ukraine empfunden?

Gar nicht. Mehr als 50 Prozent der Ukrainer interessieren sich nicht mehr für Politik, weil sie verbittert sind. Sie wurden von den Politikern enttäuscht und denken, dass alle Politiker schlecht sind. Nach der Orangen Revolution vor sieben Jahren haben Timoschenko und Viktor Juschtschenko dem Volk sehr viel versprochen, diese Versprechen aber nicht eingehalten. Die Menschen hatten so viele Jahre auf Besserung gehofft und wurden dann so bitterlich enttäuscht. Davon hat sich das Land bis heute nicht erholt.

Sie haben sich bislang erfolglos für Julia Timoschenko eingesetzt. Werden Sie weiter für Ihre Freilassung kämpfen?

Ich kämpfe nicht für Julia Timoschenko und ich kämpfe nicht für die Interessen von Julia Timoschenko. Mir geht es um demokratische Grundregeln, die man in einer freien Gesellschaft einzuhalten hat. Natürlich muss jeder Politiker für seine Handlungen die politische Verantwortung tragen, aber das heißt nicht, dass man dann ins Gefängnis muss. Unsere Justiz wird von den Machthabern politisch instrumentalisiert. Dagegen kämpfe ich.

Haben Sie genug Einfluss?

Ich versuche zumindest, meine Popularität zu nutzen, um einen Prozess in Gang zu setzen. Ich habe eine Vision von der Ukraine, die ich verwirklichen möchte.

Klitschko reißt seine Augen weit auf, zieht die Stirn hoch. Aus seinem Bürofenster hat er einen hübschen Ausblick auf die Innenstadt Kiews. Der Unabhängigkeitsplatz, auf dem die Orange Revolution vor sieben Jahren startete, liegt nur zehn Taximinuten von seinem Büro entfernt. Der Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande für seine Verdienste um die deutsch-ukrainischen Beziehungen scheint jetzt genauso konzentriert wie beim Gong zur zwölften Runde. Von 45 Profikämpfen hat Klitschko 43 gewonnen, 40 davon durch K. o. Ob der Sohn eines ukrainischen Offiziers aber auch seinen Kampf für mehr Demokratie gewinnt, bleibt angesichts der aktuellen Entwicklungen in seinem Heimatland fraglich.

Wie ist Ihre Vision?

Als ich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor rund 20 Jahren in Polen war, waren Polen und die Ukraine ungefähr auf dem gleichen Level. Als ich nun letztens mal wieder in Polen war, ist mir aufgefallen, dass sich unser Nachbarland kontinuierlich weiterentwickelt hat, in manchen Gegenden fast schon auf dem Niveau von Deutschland ist. Mein Heimatland ist dagegen immer noch auf einem ähnlichen Stand, auf dem es vor 20 Jahren war. Meine Vision ist also, dass spätestens in 20 Jahren auch die Ukraine auf dem gleichen Stand wie Polen ist.

Droht sich die Ukraine nicht unter Janukowitsch trotz der EM weiter von Europa zu entfernen?

Das muss man leider befürchten, dabei haben viele die gleichen Werte und Moralvorstellungen wie der Rest von Europa. Leider kann man in der Ukraine für Geld so ziemlich alles kaufen: einen Richter, einen Beamten, einen Polizisten - und auch Wahlen. Nur wenn wir es schaffen, dass sich das ändert, werden wir auf unserem europäischen Weg auch eine Chance haben.

Haben Sie allein überhaupt eine Chance?

Ich bin nicht alleine. Meine Partei ist keine Vitali-Klitschko-Partei, kein Vitali-Klitschko-Fanklub. Wir sind viele, und wir werden immer mehr. Im Altersdurchschnitt sind wir die jüngste Partei der Ukraine, und keine Partei wächst so schnell wie unsere.

Könnten Sie sich eine ähnliche Entwicklung wie nach dem Arabischen Frühling auch in der Ukraine vorstellen?

Ich will nicht hoffen, dass es so weit kommen wird, weil das für die Stabilität unseres Landes sehr gefährlich werden würde. Die Stimmung wird bereits von Tag zu Tag hitziger, eine Explosion könnte auch schiefgehen, weil man sie nicht kontrollieren kann.

In Ägypten, Tunesien oder Libyen wurden die Despoten aus dem Amt gejagt.

Trotzdem hoffe ich darauf, dass wir es auch ohne eine erneute Revolution schaffen. Ansonsten sehe ich die Gefahr eines Zusammenbruchs.

Im November haben Sie die CDU in Leipzig besucht. Wünschen Sie sich mehr Unterstützung von der deutschen Politik?

Das ist eine innere Angelegenheit der Ukraine, die nur das ukrainische Volk regeln kann. Wichtig wäre nur, dass wir bei den Wahlen Unterstützung von der EU bekommen, etwa in Form von unabhängigen Wahlbeobachtern. Sollte es erneut keine fairen Wahlen geben, muss man sich ernsthafte Sorgen um die Ukraine machen.

Könnte die deutsche Regierung nicht helfen, indem sie stärker versucht, Einfluss auf Viktor Janukowitsch zu nehmen?

Sowohl Deutschland als auch die restlichen Mitglieder der EU haben ja bereits sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, wie sehr sie die aktuellen Geschehnisse in der Ukraine missbilligen. Das war ein gutes Zeichen. Mehr als 60 Prozent der Ukrainer würden sich eine noch engere Partnerschaft der EU mit der Ukraine wünschen. Unsere Identität ist europäisch. Meine Heimat ist ein Teil Europas, nicht nur geografisch und vor allem nicht nur bei der Fußball-Europameisterschaft.

Warum sind Sie gegen Sanktionen gegen die aktuelle Regierung?

Ich bin fest davon überzeugt, dass Sanktionen nicht der aktuellen Regierung schaden würden, sondern unserem Volk. Aber die Menschen hier haben schon genug gelitten.

Kann eine Fußball-Europameisterschaft, die von ganz Europa verfolgt wird, helfen?

Selbstverständlich. Nicht nur Europa, sondern die ganze Welt wird im kommenden Sommer nach Polen und auf die Ukraine schauen.

Im nächsten Jahr sind auch die Bürgermeisterwahlen von Kiew. Kann es sein, dass Sie sich das EM-Finale am 1. Juli als Kiews Bürgermeister anschauen?

Ich denke nicht gerne über hypothetische Fragen nach. Ich will an den Wahlen teilnehmen, und ich will das Finale sehen.