Évian-les-BainS. An Kroos wurde die Niederlage gegen Italien im EM-Halbfinale 2012 festgemacht. Heute ähnelt er dem Mann, an dem er damals scheiterte.

Wenn im Fitnesszelt der deutschen Nationalelf in Évian-les-Bains House Music oder Hip-Hop aus den Boxen dröhnt, nimmt sich Toni Kroos seine Kopfhörer und dreht Pur auf. „Ich glaube, das will sonst keiner hören“, sagt der 26-Jährige über die deutsche Popband aus Bietigheim-Bissingen in Baden-Württemberg, die bei Leuten in seinem Alter normalerweise so beliebt ist wie Ausgehabende in Bietigheim-Bissingen. „Von daher ziehe ich das für mich allein durch“, sagt Kroos und lacht über sich selbst. Er weiß ja, dass ansonsten er der Mann für die Musik im deutschen Spiel ist.

Toni Kroos hat sich früher mal durch eine spektakuläre Wurstigkeit bei öffentlichen Auftritten ausgezeichnet – und Pur erinnert einen noch daran. Heute sitzt einem ein Mann gegenüber, dessen Selbstvertrauen den Raum ausfüllt. Der Sätze sagt wie: „Ich weiß nicht, warum ich ein Italien-Trauma haben sollte. Das muss mir erst einmal einer erklären.“ Und dem man das dann nicht als Arroganz, sondern als Coolness auslegt. Er hat jetzt eine Aura bekommen.

Denn natürlich könnte man die These vertreten, dass Kroos ein Italien-Trauma mit sich herumträgt: Die 1:2-Niederlage im EM-Halbfinale 2012 in Warschau gegen die „Squadra Azzurra“ wird bis heute in Deutschland vornehmlich an seiner Hereinnahme in die Startelf festgemacht. Kroos, der zuvor kein einziges Spiel in Polen und der Ukraine von Beginn an bestritten und sich da­rüber sogar öffentlich beschwert hatte, sollte den italienischen Spielgestalter Andrea Pirlo bewachen. Es wurde die zweite große, deutsche Pleite kurz vor einem Titel in der Ära Joachim Löw, die auch mit dem Namen Kroos in Verbindung steht: 2010 vergab er kurz nach seiner Einwechslung im WM-Halbfinale die einzige Chance zur Führung gegen Spanien. Deutschland verlor 0:1. Aber Italien war schlimmer.

Kroos 2014 ins WM-Allstarteam gewählt

Erst seit der WM 2014 haben Kroos und die deutsche Nationalelf richtig zu­einander gefunden. Damals bereitete er vier Treffer vor und wurde ins Allstarteam des Turniers gewählt. „Toni ist seit längerer Zeit ein entscheidender Faktor für uns“, sagt Löw heute. Wenn die Mannschaft des Bundestrainers am Sonnabend (21 Uhr/ARD) im EM-Viertelfinale mit allerhand Zuversicht ins Spiel gegen Italien geht, dann liegt das auch an der Form von Kroos. Der gescheiterte Pirlo-Bewacher von vor vier Jahren ist heute nämlich selbst eine Art neuer Andrea Pirlo geworden.

Wie beim mittlerweile zurückgetretenen italienischen Zampano, dessen Füße bisweilen die Eleganz von Pianistenhänden an den Tag legten, hat sich Kroos’ Spiel im zentralen Mittelfeld etwas nach hinten verlagert. Und wie Pirlo damals bei den Italienern gibt er heute den Takt im deutschen Team vor: 449 Pässe hat der Profi von Real Madrid bei dieser EM bisher gespielt, 93 Prozent davon kamen beim eigenen Mann an. Weit abgeschlagen dahinter folgen der Schweizer Granit Xhaka (398 Pässe) sowie die Spanier Andres Iniesta (356) und Sergio Ramos (310).

Kein Spieler hat einen größeren Einfluss auf den Rhythmus seiner Mannschaft. „Toni spielt sehr ökonomisch, sehr ballsicher. Er sorgt für eine gute Symmetrie auf dem Platz“, sagt Löw und meint das Gleichgewicht zwischen Offensive und Defensive. „Er ist bei uns einer der wichtigsten Spieler. Er bestimmt das Tempo, spielt sehr kluge Pässe und hat Verantwortung übernommen“, sagt Jérôme Boateng.

Löw hat kurz vor dem Turnier erleben können, was passiert, wenn man Kroos aus der Mannschaft nimmt: Beim Champions-League-Finale gegen Atlético Madrid holte ihn Real Madrids Trainer Zinedine Zidane – früher selbst ein großer Zampano – schon in der 72. Minute vom Feld. Danach verlor das Spiel der „Königlichen“ völlig die Balance, Atlético glich aus, und Real hatte am Ende nur das Glück, im Elfmeterschießen die Nerven zu bewahren. Löw, der sich 2012 noch viel Kritik für die Hereinnahme von Kroos anhören musste, weil er ihn auch falsch einsetzte, würde das nicht passieren: Beim Bundestrainer spielt Kroos jetzt immer.

Mit seiner Entwicklung ist Kroos hochzufrieden

„Die vergangenen vier Jahre sind hervorragend gelaufen. Das zeigt sich an der Konstanz der Leistung und am Erreichten: den Titeln. Von daher bin ich mit der Entwicklung hochzufrieden“, sagt Kroos über sich selbst – und wieder klingt das nicht arrogant.

An ihm und seiner Position lässt sich auch gut erzählen, welch unterschiedliche Spielkulturen am Sonnabend im EM-Viertelfinale aufeinandertreffen werden: Deutschland spielt einen Toni-Kroos-Fußball. Kein Team bei der EM hat mehr Pässe geschlagen (2586). Italien dagegen hat keinen Pirlo mehr, sondern dort, wo der einst weilte, nur noch Abräumer. Der mit einer Gelbsperre ausfallende Thiago Motta trägt zwar die „10“ auf dem Rücken, bringt aber wie sein von einem Ver letzungsausfall bedrohter Kompagnon Daniele De Rossi die Eleganz eines Heavy-Metal-Schlagzeugers mit. Nur 1626 Pässe hat Italien bisher gespielt. Das ist kein Team der Dominanz.

Kroos musste am Donnerstag noch das Gerücht dementieren, er wechsle zu seinem früheren Münchner Vereinstrainer Pep Guardiola und dessen neuem Verein Manchester City in die englische Premier League. Er kennt diese ständigen Mutmaßungen, Spieler seines Kalibers sind nun einmal in ganz Europa begehrt. Dennoch sagte er: „Ich mache mir immer Gedanken um meine Zukunft. Aber ich bin bei Real, habe noch vier Jahre Vertrag. Das sollte ausreichen, dass weniger Gerüchte aufkommen.“ Nicht unwahrscheinlich, dass Guardiola das auch nicht hören wollte.