München. In München wollten sich Trainer Löw und seine Schützlinge eigentlich für die EM in Szene setzen. Doch alle Gedanken kreisen um Boateng.

Lässig lehnt Joachim Löw in der Tiefgarage des Teamhotels in einer schwarzen Lederjacke an der Kühlerhaube eines Luxus-Sportwagens. Konzentriert blickt der Bundestrainer durch seine Sonnenbrille in die Kameras. Schnell sind die Bilder geschossen. Bei den finalen Werbeaufnahmen für die Fußball-Europameisterschaft muss der Bundestrainer wie seine Nationalspieler immer wieder als Model posieren. In Gedanken ist Löw am Montag aber auch immer wieder bei einem seiner VIP-Weltmeister, der beim Marketingtag in München fehlt: Jérôme Boateng, seit dem Wochenende das aktuell größte Sorgenkind des FC Bayern München und auch der deutschen Nationalmannschaft.

Die Probleme sind groß, nicht nur für die Bayern, die ihre Triple-Mission womöglich komplett ohne ihren besten Abwehrspieler bestreiten müssen. „Es ist bitter, dass Jérôme ausfällt. Er ist ein Leistungsträger bei uns. Das tut uns natürlich sehr weh“, bemerkte Kapitän Philipp Lahm am Montag bei einem Sponsorentermin.

Wohl keine Blitztransfer der Bayern

Ein Blitztransfer in der letzten Wochen der Winter-Transferfrist erscheint fragwürdig. Der Markt gibt einen in der Champions League spielberechtigten Innenverteidiger auf Topniveau wohl nicht her. Trainer Pep Guardiola dürfte auf Holger Badstuber, Javi Martínez, David Alaba und den oft verletzten Medhi Benatia bauen müssen.

Auch Löw muss - Stand heute - um die optimale EM-Fitness seines besten Innenverteidigers bangen. Boateng soll mit der in Hamburg erlittenen Muskelverletzung mindestens drei Monate ausfallen. Wie ernst die Lage eingeschätzt wird, bestätigte Teammanager Oliver Bierhoff am Montag bei der Ankunft am Hotel: „Ich hoffe, dass er es Richtung Saisonende und EM noch packt.“ Schon am Wochenende hatte Bierhoff via SMS „aufmunternde“ Worte an Boateng übermittelt.

Boateng wird weiter untersucht

Der 27-Jährige konnte an den letzten EM-Werbeproduktionen für DFB-Sponsoren nicht teilnehmen. Auch drei Tage nach der Partie standen weitere ärztliche Untersuchungen an. Wie schwer sind die Adduktoren im linken Oberschenkel tatsächlich beschädigt? Ein Muskelbündelriss soll es mindestens sein. Womöglich ist auch eine Sehne betroffen, was die Ausfallzeit verlängern würde. Droht sogar ein Saisonaus? Auch Löw wartete am Montag auf aktuelle Nachrichten von Boateng, erst danach wollte er die Lage öffentlich einschätzen.

Pechvogel Boateng richtete den Blick notgedrungen nach vorne. Zumindest die EM in Frankreich (10. Juni bis 10. Juli) bleibt ein Ziel. „Bis zur Europameisterschaft sollte es im Normalfall reichen. Ich muss dann aber auch erstmal wieder auf mein gewohntes Level kommen“, sagte der 57-malige Nationalspieler dem „Kicker“.

Keine Erfahrung mit Muskelverletzungen

Am 23. Mai beginnt das EM-Trainingslager. Womöglich kann Boateng zuvor beim FC Bayern im Saisonendspurt ein Comeback feiern. Aber bei dem Modellathleten fehlen Erfahrungswerte. Boateng war bislang nur schwerer am Knie verletzt, die Muskeln rissen nie. Teamkollege Mario Götze, der am 8. Oktober beim Länderspiel in Irland einen Ausriss der Muskelsehne im Bereich der Adduktoren erlitten hatte, pausiert knapp vier Monate später immer noch. Er soll im Februar wieder spielen.

Sami Khedira könnte zu einem Vorbild werden: Der Mittelfeldspieler schaffte es vor zwei Jahren nach einem Kreuzbandriss noch rechtzeitig zur WM. Boateng stellt sich zunächst einmal auf einige schwierige Wochen und Monate ein. „Die Laune wird in nächster Zeit nicht so toll sein, wenn ich meine Energie nicht raushauen kann“, sagte er.

Nur eine verlässliche Abwehr-Größe

Nach Benedikt Höwedes (Muskelverletzung im rechten Oberschenkel) ist Boateng für Löw der zweite langzeitverletzte Weltmeister. Die einzige verlässliche Größe im Abwehrzentrum für die EM ist vorerst der Dortmunder Mats Hummels. „Mats ist unabhängig von Jérôme ein sehr wichtiger Spieler“, sagte Teammanager Bierhoff: „Er hat Präsenz, Persönlichkeit. Die Reibungspunkte, die er setzt, sind gut für uns.“

Löw und Bierhoff nutzten den traditionellen Marketingtag auch dazu, schon zu Jahresbeginn die Sinne der Spieler für die neue Titelmission im Sommer zu schärfen. Die rund 30 angereisten EM-Kandidaten, angefangen bei Kapitän Bastian Schweinsteiger bis hin zum Schalker Youngster Leroy Sané, erhielten in einer Teamsitzung vielfältige Turnierinformationen zum Zeitplan, zu Sicherheitsvorkehrungen oder auch dem Familienprogramm. „Am wichtigsten ist aber, dass wir die Spieler beisammen haben, ihnen in die Augen gucken und ihnen in den Kopf setzen können, dass neben Bundesliga, Champions League und anderen Wettbewerben die EM ein Riesenevent ist in diesem Jahr“, erläuterte Bierhoff. Für Boateng ist sie schon jetzt das Hauptziel.