Bei Angela Merkel verbindet sich Enthusiasmus für die Nationalmannschaft mit einem Gespür dafür, was dem deutschen Volk lieb und wichtig ist. Das war bei Helmut Kohl anders.

Hamburg. An Weisheiten, Einsichten und wohldosierten Warnungen von oberster Stelle hatte es vor dem großen Finale nicht gefehlt. „Das Spiel wird sicherlich nicht ganz einfach“, hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel in Rio zu bedenken gegeben und die durchaus zutreffende Einschätzung hinzugefügt: „Jedes Endspiel ist ein schweres Endspiel.“ Aber, um die Dinge in die richtige Ordnung zu bringen, hatte sie klargestellt: „Zum Schluss wissen die Menschen; dass ich die Politikerin bin und die Fußballer die Fußballer.“

Diese bedeutsame Unterscheidung zwischen Politik und Sport war offenbar nicht immer so leicht zu treffen gewesen. Nach dem ersten Weltmeisterschaftssieg einer deutschen Nationalmannschaft Anfang Juli 1954 gegen die hoch favorisierten Ungarn – das „Wunder von Bern“ – war ein Redakteur der Frankfurter „Abendpost“ offenbar so nachhaltig beeindruckt, dass er anschließend in einem Bericht über die deutsche Wiederbewaffnungsdebatte von „Bundestrainer Adenauer“ schrieb. Konrad Adenauer, der wenig volksnahe Alte von Rhöndorf, hatte der deutschen Equipe damals als Bundeskanzler immerhin ein gestelztes Glückwunschtelegramm in die Schweiz geschickt. Weder er noch Bundespräsident Theodor Heuss – dessen unvergessenes „nun siegt mal schön“ zu Bundeswehrsoldaten 1958 im Manöver auch Helmut Rahn und Co. bestimmt gut gefallen hätte – wäre es eingefallen, nach Bern zum Endspiel zu fahren.

Der unerwartete Fußballsieg, gerade mal neun Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, sorgte bei den Deutschen für ein derartig starkes „Wir-sind-wieder-wer-Gefühl“, dass manche von der eigentlichen Geburtsstunde der Bundesrepublik im emotionalen Sinne sprechen. Wie gegenwärtig der Krieg noch war, demonstrierte die englische Zeitung „Manchester Guardian“, als sie kommentierte: „Der furchtbare deutsche Angriff war eine echte Rückkehr zum alten Blitzkrieg.“ In Europa löste der patriotisch aufbrausende Jubel der Deutschen Beklemmung aus, ebenso die Ansammlung von 500.000 begeisterten Menschen, die die Sieger von Bern damals in München empfingen.

Heute können Kanzlerin samt Bundespräsident Joachim Gauck als geballtes Duo zum Spiel anreisen und ihrem Patriotismus durch entsprechende modische Accessoires Ausdruck verleihen, ohne international Anfälle von Argwohn auszulösen. Die bereits wohlbekannte Schland-Kette, bestehend aus Steinen schwarzer, roter und goldener Färbung, fand sich auch diesmal am Hals der Regierungschefin, wenn auch dezent verdeckt von ihrem roten Glücks-Blazer, den sie schon beim 4:0 gegen Portugal anhatte. Dazu trug Merkel im legendären Maracanã-Stadion eine absonderliche Kreation, die außerhalb von Weltmeisterschaften wohl nacktes Schaudern auslösen würde: Eine Handtasche in Form eines schwarzrot-goldenen Fußballs, vom Volksmund umgehend „Schlandtasche“ getauft.

Daneben wirkte der unauffällig mitgereiste, dunkel gewandete Bundespräsident mit seinem Binder in den Nationalfarben geradezu bieder. Anders als etwa 1954 sind die Sympathien für Deutschland in der Welt 2014 inzwischen derart gediehen, dass die Kanzlerin, vor dem Endspiel befragt nach einem möglichen Ergebnis, erfrischend patriotisch antworten konnte: „Mir ist es egal. Hauptsache gewonnen.“

Genüsslich konnte Merkel verbreiten, dass ihr die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff ihre Sympathien für die deutsche Nationalmannschaft gestanden hat. Das ist einerseits erstaunlich angesichts der herben Packung, die Brasilien gegen Jogi Löws Mannen kassiert hat, andererseits aber nachvollziehbar, wenn man die glühende Rivalität zwischen Brasilien und Argentinien bedenkt. Obwohl die in Eimsbüttel geborene Kanzlerin gern darauf hinweist, dass sie damals in der DDR, noch als Angela Dorothea Kasner, auch einmal ihren Weg in das Leipziger „Zentralstadion“ gefunden hatte, ist ihre Liebe zum Fußball vermutlich eine eher jüngere Entwicklung.

Bei Merkel dürften sich echter Enthusiasmus für die Nationalmannschaft mit einem ausgeprägten Gespür dafür verbinden, was dem deutschen Volk lieb und wichtig ist. Die bereits zum Ritual gewordene Anwesenheit der Kanzlerin bei wichtigen Spielen der deutschen Nationalmannschaft ist für diese zweifellos ein Ansporn. Zugleich stellt Merkel damit wahlwirksam klar, dass sie die Leidenschaften ihres Volkes solidarisch teilt. Und der Glanz des Weltmeisterschaftstitels fällt natürlich auch auf die mächtigste Frau der internationalen Politik, die deutsche „Welt-Mutti“.

Das doppelte Selfie von Lukas Podolski mit seinem großen Fan, der Kanzlerin – eines nach dem Sieg gegen Portugal in Salvador und noch ein zweites nach dem WM-Sieg –, hat sogar einen völkerverbindenden Hintergrund: Podolski ist bekanntlich in Polen geboren – und Merkels Großvater, der nach Berlin verzogene Polizeibeamte Ludwig Kasner, war als Ludwig Kazmierczak in Posen zur Welt gekommen.

Angela Merkel, die Eiserne aus der Uckermark, wird gemeinhin nicht oft mit sprühenden Emotionen in Verbindung gebracht. Doch ihr beidarmig unterstützter Jubelschrei beim 1:0 im „Dramacana“ war keine Pose – wenn auch Gauck, der alte Hansa-Rostock-Fan (und geboren ebendort) einen Wimpernschlag früher aus dem Sitz geschnellt war.

Konrad Adenauer hätte sich wohl lieber in den Rhein gestürzt, als sich in die verschwitzte Mannschaftskabine zu begeben, sich dort im ungeordneten Haufen mit Bier trinkenden Spielern plus Pokal fotografieren zu lassen und das ganze Team zu herzen. Bei Merkel und Gauck; die beide nicht dem Abgesondert-Elitären zuneigen, wirkte diese Geste nicht aufgesetzt.

Sie ist zugleich ein Symptom für die gesellschaftliche und atmosphärische Veränderung in der Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten mit einem Abbau hierarchischer Barrieren. Es gibt sogar unglaubliche Berichte von Augenzeugen, nach denen die Kanzlerin mittels einer ordinären Flasche Bier mit der Mannschaft angestoßen haben soll.

Auch Helmut Kohl hatte sich 1996 in die Kabine im Londoner Wembley-Stadion gezwängt, um als Bundeskanzler der deutschen Mannschaft zum Sieg bei der Europameisterschaft zu beglückwünschen. Es ist aber nicht bekannt, dass er die Spieler damals mit Küsschen versorgt und Flaschenbier genossen hätte.