Mit einem Videostudium der Holland-Niederlage quälte Trainer del Bosque Spaniens Nationalmannschaft. Gegen Chile heute zählt nur ein Sieg.

Rio de Janeiro . Im spanischen Teamquartier in Curitiba hängt die Erinnerung an den Wänden. Fotos von 2008, Fotos von 2010, Fotos von 2012. Jubelnde Spieler, glückliche Spieler. Dieselben Spieler, die erst mal eine Weile brauchten, um ihr jüngstes Turniererlebnis zu verdauen. Vielleicht haben ihnen die Poster ja geholfen.

„Alle hier fühlen sich in der Lage, den Karren noch aus dem Dreck zu ziehen“, sagte Nationaltrainer Vicente del Bosque, bevor es am Montagabend nach Rio de Janeiro ging. Dort, im mythischen Maracanã wird heute Urteil gesprochen. Nur ein Sieg gegen Chile (21 Uhr/ZDF) hält die vielleicht beste, jedenfalls titelreichste Auswahlgeneration aller Zeiten im Turnier. Schon ein Remis wäre wohl zu wenig. Dann müsste Holland gegen Australien verlieren, um Spanien eine belastbare Chance auf das Weiterkommen zu lassen.

Die Erinnerung: Neben all den Erfolgen ist es ja nicht so, dass Spanien noch nie in einer vergleichbaren Situation gewesen wäre. 2010 ging die Auftaktpartie ebenfalls verloren, gegen die Schweiz. Das nächste Spiel gegen Honduras musste daraufhin gewonnen werden und das dritte auch, gegen Chile, das damals einen noch stärkeren Eindruck vermittelte als nun beim mühsamen 3:1-Auftaktsieg gegen die Australier. Klar, andererseits hinterließen hier natürlich auch die Spanier andere Impressionen als 2010 beim so knappen wie unglücklichen 0:1 gegen die Eidgenossen.

„Damals war es eher ein Unfall“, sagte Stürmer Fernando Torres, „diesmal fühlten wir uns übermannt und unfähig, das Spiel zu gewinnen.“ Anders ausgedrückt: Damals musste man nur ein paar Schrauben festziehen. Diesmal einen Berg von Selbstzweifeln abtragen. Del Bosque legte noch in der Nacht der Rückkehr vom Holland-Spiel das Video des Grauens ein, um die Mechanismen zu verstehen, die zur völligen Desorganisation seiner Elf in der zweiten Halbzeit führten.

Vom Resultatszwang her sahen sich die Spanier zuletzt vorigen Herbst mit einer vergleichbaren Lage konfrontiert. In Paris musste gegen Frankreich gewonnen werden, um die direkte WM-Qualifikation zu sichern. Zwei spanische Heldengeschichten schrieb dieses Spiel. Die des Siegtorschützen Pedro, der gute Chancen hat, gegen Chile neu in die Startelf zu rücken. Und die von Torwart Víctor Valdés, der mit grandiosen Paraden das 1:0 festhielt. Valdés jedoch kann gegen Chile nicht in die Mannschaft rücken. Er fehlt bei der WM wegen eines Kreuzbandrisses.

Für Spanien ist das ein Unglück, wie es niemand hätte erahnen können. Die Option des renommierten und als gleichwertig anerkannten Valdés hätte es Del Bosque ermöglicht, den gegen Holland gedemütigten Iker Casillas aus dem Tor zu nehmen, ohne den Kapitän vollkommen sein Gesicht verlieren zu lasen. Bei den beiden in Brasilien anwesenden Vertretern ist das anders. Pepe Reina hat sich zwar bei allen Titelgewinnen seit 2008 als gute Seele des Teams etabliert, aber sportlich nie das Format von Casillas oder Valdés gewonnen. Der junge David de Gea wiederum hat gerade mal ein Länderspiel absolviert und ist zu allem Überfluss auch noch angeschlagen.

Also wieder Casillas, obwohl er bei seinem Club Real Madrid diese Saison nur im Pokal und Europacup spielen durfte. Nun hat das nach eigener Auskunft schlechteste seiner 155 Länderspiele nicht nur den Spott derer befeuert, die seine noch von Reals Ex-Trainer José Mourinho betriebene Degradierung immer schon für gerechtfertigt hielten. Sondern, vielleicht noch schlimmer, auch das Mitleid seines heutigen Gegenübers Claudio Bravo. Der Chilene, der kurz vor einem Wechsel zum FC Barcelona steht und dort offenbar mit Marc-André ter Stegen um die Torwartposition konkurrieren soll, sagte: „Seine Situation ist sehr schwierig. Ein Torhüter muss im Wettkampf stehen, sich jede Woche lebendig fühlen. Wenn dir der Spielrhythmus fehlt, versuchst du nur, keine Fehler zu machen.“ Und dann passieren sie eben erst recht, wie bei Casillas zuletzt auch im gerade noch so eben gewonnenen Champions-League-Finale.

Obwohl er also genug mit sich selbst zu tun hätte, muss Casillas immer noch den selbstlosen Kapitän geben. Bei Real Madrid, wo er sich nie darüber beschwerte, dass er nach knapp 500 Ligaspielen plötzlich nicht mehr gut genug sein sollte, und umso eifriger das Hohelied von Team und Club sang. Wie auch jetzt in der Nationalelf, wo er nach dem Holland-Spiel eigentlich am meisten Trost gebraucht hätte, den aber nur auf dem Spielfeld von Arjen Robben getätschelt bekam. In der Kabine nach dem Schlusspfiff hingegen war er es, der als Kapitän aufmunternde Reden schwang. Wenn man so will, ist der 33-Jährige bei einer Art Helfersyndrom angekommen.

Abhanden gekommen ist den Spaniern aber auch das Urvertrauen in ihren Stil, das sie immer charakterisiert hatte. Kein Zufall, denn die Sache ist nicht mehr so klar, wie sie mal war, seit das jahrelange Laboratorium FC Barcelona in eine Dekadenzphase eingetreten ist und zuletzt Real und Atlético Madrid den Vortritt lassen musste.

Die spanische Selección verfügt jetzt über mehrere Spieloptionen, was ihr prinzipiell zugute kommt. Doch wie es eben so ist: Wenn es nicht läuft, wie in der zweiten Halbzeit gegen Holland, kann Vielfalt auch zu Verunsicherung führen. Innerhalb der Mannschaft scheint man sich nicht denn auch über den idealen Weg nicht mehr ganz einig zu sein. „Wir werden mit unserem Stil siegen oder sterben, denn er hat uns erfolgreich gemacht“, sagte Tiki-Taka-Ikone Xavi vor dem Auftaktspiel. Derweil Cesc Fàbregas, der nicht zufällig den FC Barcelona in Richtung Chelsea verlässt, für einen direkteren Ansatz plädiert: „Unser Passspiel muss dynamischer sein und klarer das gegnerische Tor suchen. Im Fußball kann man auf verschiedene Weisen gewinnen.“

Fàbregas begründete seinen Vorschlag auch damit, dass ja gegen Chile nicht nur gewonnen werden müsse, sondern deutlich gewonnen, um schon mal das womöglich am Ende zum Weiterkommen entscheidende Torverhältnis aufzubessern. Ein klarer Sieg also gegen jene unbequemen Chilenen, für die Arturo Vidal ankündigte, „wie immer selbstmörderisch zu spielen“ und außerdem „Weltmeister werden zu wollen“? Offenbar ist es schon wieder ganz gut bestellt um das Selbstvertrauen im spanischen Camp.

Spanien: 1 Casillas – 22 Azpilicueta, 15 Ramos, 3 Piqué, 18 Jordi Alba – 16 Busquets, 14 Xabi Alonso – 11 Pedro, 8 Xavi, 6 Iniesta – 19 Diego Costa (10 Fábregas). Chile: 1 Bravo – 4 Isla, 17 Medel, 2 Mena, 18 Jara – 16 Gutierrez – 21 Diaz, 15 Beausejour, 10 Valdivia – 7 Sánchez, 11 Vargas. Schiedsrichter: Ginger (USA).