Im Buch „Die Nationalelf“ spricht der Bundestrainer über die wichtigsten Momente vor und nach einem Länderspiel. Auch die Entstehung eines Matchplans thematisiert Löw.

Hamburg. Seit Montag bereitet Joachim Löw seine Spieler auf die letzten WM-Qualifikationsspiele am Freitag in Köln gegen Irland und am kommenden Dienstag in Schweden vor. In dem neu erschienenen Buch „Die Nationalelf – Momente für die Ewigkeit“ von Abendblatt-Redakteur Alexander Laux lässt der Bundestrainer einen seltenen Blick in seine Gefühlswelt zu und beschreibt, wie er die Vorbereitung, den Spieltag, das Spiel und die Nacht nach dem Abpfiff erlebt. Lesen Sie Auszüge.

Der Treffpunkt. Löw: „Selbst als Nationaltrainer braucht man immer ein paar Stunden oder sogar ein, zwei Tage, bis man Betriebstemperatur erreicht hat, schließlich hat man sich manchmal über Wochen nicht gesehen und nur aus der Ferne kommuniziert, ob telefonisch oder per SMS. Das ist wie bei einer Fernbeziehung im privaten Bereich: Man reist mit hohen Erwartungen an, muss sich aber, wenn man sich einige Wochen nicht gesehen hat, erst einmal wieder annähern. Jeder kommt aus einer anderen Umgebung, hat Erfolge oder Misserfolge erlebt. Auch deshalb ist der persönliche Kontakt so wichtig. “

Die Trainingswoche. Löw: „Die stetige Gefahr ist, dass wir den Spielern zu viel zumuten. Ich habe festgestellt, dass es besser sein kann, bestimmte Elemente zu festigen, als zu viel vorantreiben zu wollen. Das Schwierige bei der Nationalmannschaft ist ja das Fehlen der täglichen Prozesse. Deshalb ist es enorm wichtig, möglichst feinfühlig zu beobachten: Wie verhalten sich einzelne Spieler im Training? Wie ist der wirkliche Formzustand? Wie sind Stimmungen, wo gibt es Konfliktpotenziale? (…) Die Termine für Gespräche und Videositzungen gestalte ich variabel, mal morgens oder nach dem Training, da bin ich flexibel und entscheide aus dem Bauchgefühl heraus.“

Öffentliche Auftritte. Löw:„Ich gebe zu: Es fällt mir nicht immer leicht, vor die Öffentlichkeit zu treten, obwohl ich weiß, dass diese Termine wichtig sind und für mich als Gesamtverantwortlichen dazugehören. In wichtigen Phasen und im Vorfeld von entscheidenden Spielen würde ich mich lieber ausschließlich auf die Mannschaft und die rein sportlichen Belange konzentrieren können. Gelegentlich fühle ich mich förmlich herausgerissen, wenn ich mich auf eine Pressekonferenz vorbereiten muss oder Einzelgespräche führe.“

Der Matchplan. Löw:„Wie wir spielen wollen, steht im Grunde längere Zeit vorher fest, schließlich wollen wir uns weniger nach dem Gegner richten. Auch bezüglich der Aufstellung gibt es natürlich bereits im Vorfeld Überlegungen. Allerdings entscheide ich hier aus dem Gefühl heraus: Was habe ich im Training gesehen, wer macht einen guten oder weniger guten Eindruck? Da läuft vieles auch intuitiv.“

Noch ein Tag bis zum Anpfiff. Löw:„Am Tag vor einem Spiel merke ich, wie sich manche Dinge verändern. Der Abend ist die Phase der Entscheidungsfindung. Gerade bei eher überraschenden Aufstellungen halte ich es für besser, rechtzeitig mit den betreffenden Spielern über ihren Einsatz zu sprechen, nicht erst unmittelbar vor dem Anpfiff, und ihnen die Aufgabe zu vermitteln und das Vertrauen auszusprechen. Es kann allerdings auch vorkommen, dass ich im Einzelfall gegen 21, 22 Uhr noch nicht ganz sicher bin. Dann schlafe ich noch mal eine Nacht darüber und entscheide am Morgen des Spieltags.“

Der Spieltag. Löw:„Mit der letzten Sitzung steigt die Anspannung. Um dennoch etwas abschalten zu können, gehe ich regelmäßig vor den Spielen in den Fitnessraum. Mit der Abfahrt zum Stadion ist die Phase der Vorbereitung abgeschlossen. Ab sofort ist man wie in seiner eigenen Welt und nicht mehr so aufnahmefähig für das, was außen passiert. Die Hymne ist dann ein absoluter Höhepunkt, etwas Überragendes: Wir sind eine Mannschaft! Wir tragen dieses Trikot mit Stolz! Für Deutschland! Eine Nation steht in diesem Moment zusammen und fiebert mit dieser Mannschaft! Besonders bei Turnieren gibt es kaum eine Steigerung für diese Emotionen.“

Das Spiel. Löw:„Meine Emotionen während eines Spiels im Griff zu behalten, kann ich nicht steuern oder kontrollieren, es gibt keinen klaren Plan, was meine Verhaltensweisen betrifft. Doch, einen Plan gibt es: Ich möchte möglichst wenig zu tun haben mit dem vierten Offiziellen oder dem Schiedsrichter, nicht ständig diskutieren, sondern mich lieber darauf konzentrieren, was bei uns auf dem Platz passiert, welche Fehler auftreten. Wenn gewisse Abläufe nicht richtig funktionieren, werde ich unruhig. Am unberechenbarsten bin ich allerdings, wenn wir in Führung liegen und die Mannschaft in einer Phase des Spiels leichtfertig agiert. Dann bin ich wahrscheinlich am emotionalsten, wütend und unruhig.“

Zurück im Hotel. Löw:„Es dauert Stunden, bis die Anspannung abfällt, die erste Nacht ist sehr unruhig, unabhängig von Sieg oder Niederlage. Bis ich einschlafen kann, kann es vier Uhr werden. Dann wachst du wieder auf, du brütest über einzelnen Szenen, es läuft ein Film ab. Ich brauche sicher ein, zwei Tage nach einem Länderspiel, um wieder auf Normaltemperatur runterzukommen. In dieser Phase müssen mich meine Leute im Umfeld ein bisschen in Ruhe lassen.“

Zwei Wochen nach dem Abpfiff. Löw:„Drucksymptome spüre ich später. Während eines Turniers beispielsweise kann ich mich völlig freimachen davon, dass eine ganze Nation in Aufruhr wegen eines Viertel- oder Halbfinalspiels ist und Wohl und Wehe von meinen Entscheidungen abhängen könnten. Dann bin ich in meiner Welt und kann die Anspannung vor bedeutenden Spielen sogar genießen und will es genauso haben. Aber mit zwei, drei Wochen Abstand kommen diese Symptome hoch, die Unruhe – oder auch am Ende eines Kalenderjahres. Wenn ich mich ein bisschen fallen lassen kann, merke ich, wie ich anfange, Dinge zu verarbeiten, die ich vorher in gewisser Form verdrängt habe. (…) In solch einer Phase verspüre ich eher negativen Stress.“

„Die Nationalelf – Momente für die Ewigkeit“ Delius Klasing, 240 Seiten, ca. 200 Abbildungen, 29,4 x 27,8 cm, 39,90 Euro.